Sylvia Wage: Grund – Roman

Sylvia Wage Pressefoto

Ein hintergründiger, makaberer und lebendiger Debütroman der Blogbuster-Preisträgerin Sylvia Wage

Mal angenommen, ein „Geschwisterchen“ steht morgens um sechs Uhr am Rande eines dreieinhalb Meter tiefen Brunnens im Keller seines Elternhauses, blickt hinab auf den Vater, der abgemagert, im Feinripphemd und mit fleckiger Jogginghose tot am Grund des Brunnens liegt, fragt sich eine winzige, aber trotzdem tiefe Sekunde lang, was denn nun zu tun sei, und ruft kurzentschlossen seine zwei Schwestern an. Die kommen sofort – die schöne, kluge und erfolgreiche Elli, ein paar Jahre älter als das mittlere „Geschwisterchen“, und die jüngere Thea, schon als Kind ein richtiger „Rumbuff“, grobmotorisch, lärmend, Hausfrau und Mutter.

Mal weiter angenommen, das „Geschwisterchen“ behauptet, es habe besagten Brunnen im Keller des Elternhauses im Alter von elf Jahren eigenhändig gegraben, ein paar Jahre später nach Vollendung des Bauwerks den Vater hineingestoßen und ihn fortan zuverlässig versorgt, 3x täglich Essen und Fäkalien mit dem „Eimer runter, Eimer rauf“, etwa zwanzig Jahren lang, bis der Mann schließlich eines quasi natürlichen Todes stirbt, „immerhin hatte ich ihn ja nicht erschlagen“, weshalb es nun eine Leiche zu entsorgen gilt – das wäre doch glatt gelogen, oder?

Alles Lüge, alles Wahrheit

Sylvia Wage Grund Cover Eichborn Verlag

Ganz so einfach macht Sylvia Wage, die mit „Berliner böse Weiber – wahre und wilde Geschichten“ bereits ein Buch mit Porträts berühmter Berliner Frauen vorgelegt hat, es uns natürlich nicht. Wir erfahren, dass ein Brunnen ohne Wasser kein Brunnen ist, sondern ein Loch; doch die Idee mit dem Brunnen gefällt dem „Geschwisterchen“ besser, denn „niemand kehrt als der zurück, der er einst war, wenn er in einen Brunnen hinabgestiegen ist.“

Während es sich nun mit Elli und Thea über eine geeignete Entsorgung der Leiche berät, blendet das „Geschwisterchen“ sich immer wieder zurück in ein offenbar traumatisches Familienleben zwischen herrschsüchtigem Vater und trunksüchtiger Mutter, denen es trotz eines Hausbesuchs vom Jugendamt gelingt, die Fassade bürgerlicher Wohlanständigkeit zu wahren – weil das „Geschwisterchen“ dem Vater im entscheidenden Moment zur Seite springt und die Schuld an einer ungewöhnlichen Kopfverletzung seiner Schwester Thea auf sich nimmt.

Das Trauma erzählen

Solch unverhoffte Schützenhilfe wird vom Vater natürlich belohnt, und spätestens jetzt ist dem „Geschwisterchen“ klar, dass es „verschwinden“ muss. Das heißt nicht, einfach abhauen oder sich im Säurebad auflösen, sondern sein „ganz eigenes Unsichtbar“ schaffen, nämlich „das Verborgene ganz offen vor aller Augen tun – und nur dafür sorgen, dass die Blicke auf etwas ganz anderes gerichtet waren. Und so begann ich zu lügen und zu graben.“

Und wieder ist es vertrackter, als es zunächst aussieht. Denn was oben für die Wahrheit galt, gilt hier für die Lüge: Das „Geschwisterchen“ nimmt es damit nicht so genau – und verpuppt sich überdies in seinem „ganz eigenen Unsichtbar“, indem es, fast schon ein Trugbild, im gesamten Roman ohne Namen bleibt und uns auch nicht verrät, ob es männlich oder weiblich ist.

Sylvia Wage erzählt von durchkreuzten Hoffnungen

Immer wieder schert das „Geschwisterchen“ aus dem Erzählfluss aus und spricht sein Publikum unmittelbar an. Großartig, wie diese merkwürdig ungreifbare und doch sehr plastische Ich-Figur auf der Klaviatur von Wünschen und Leseerwartungen spielt, wie sie das just Erzählte gezielt gegen mutmaßliche Einwände absichert und aufkeimende Hoffnungen auf ein versöhnliches Ende mit scharfsinnigen Reflexionen auf das Erzählen an sich durchkreuzt:

„1. Eine gute Geschichte braucht nicht nur absolute Hoffnungslosigkeit, sondern auch Glaubwürdigkeit. Hoffnungslosigkeit ist einfach, da muss man nur die Wahrheit erzählen. Aber Glaubwürdigkeit ist schwer, denn dafür darf man keinesfalls die Wahrheit erzählen. / 2. Mein Vater hatte Angst vor Spinnen. […]“

Sylvia Wage gelingt ein starker Debütroman

Bis zum Schluss, an dem die drei Geschwister mit einer schier unglaublichen Idee zur Beseitigung der Leiche aufwarten, behält die Ich-Figur alle Fäden der raffiniert komponierten Erzählung souverän in der Hand. An keiner Stelle inszeniert sie sich als Opfer familiärer Gewalt; das „Geschwisterchen“ plaudert ganz unaufgeregt daher, es erzählt drastisch, nüchtern, bitterernst und, ja, bisweilen auch einsam, traurig – dann plötzlich wieder urkomisch.

Mit „Grund“ gelingt Sylvia Wage, die den literarischen Multiblog Wababbel administriert und auch im Berliner Literaturlabel zuckerstudio waldbrunn aktiv ist, ein starkes Debüt – hintergründig, makaber, sehr lebendig und auch beim zweiten Lesen keine Zeile langweilig.

Sylvia Wage: „Grund“, Eichborn, Hardcover, 176 Seiten, 978-3-8479-0093-1, 20 Euro. (Beitragsbild von

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