Stewart O’Nan: Die Chance

Ein neuer, großartiger Roman von Stewart O‘Nan

von Gérard Otremba

Stewart O’Nan gehört zu den wichtigsten und besten amerikanischen Gegenwartsautoren. Der in Connecticut lebende Schriftsteller reüssierte 1997 auf dem deutschen Buchmarkt mit dem außergewöhnlich berührenden Roman Engel im Schnee, in dem O’Nan hinter die Fassade einer amerikanischen Kleinstadt der 70er Jahre blickt. Der 53-Jährige nimmt sich der Tragik und Perspektivlosigkeit der amerikanischen Mittelschicht, die in einem Mord mündet, mit einem realistischen, anmutigen und eleganten Sprachstil an. Die Menschen, die meist zu Opfern des „American Way of Life“ werden, oder für die allerhöchstens einige Brotkrümel übrig bleiben, stehen auch im Mittelpunkt weiterer O’Nan-Romane. Im aufreibenden, zügellosen und rasanten Die Speed Queen erzählt der in Pittsburgh geborene O’Nan die Geschichte einer zum Tode verurteilten Raubmörderin, in Das Glück der anderen nehmen Verzweiflung und Depression apokalyptische Ausmaße an, das Lesen des Buches eine bedrückende Erfahrung.

Für alle, alle lieben dich greift O’Nan die Grundidee von Engel im Schnee auf, wieder im glanzvollen, poetischen Realismus fabuliert. Sein neuer, wie üblich kongenial von Thomas Gunkel übersetzter, Roman Die Chance setzt sich mit den Folgen der Finanzkrise auseinander. Das Ehepaar Marion und Art Fowler steht vor dem Ruin. Arbeitslos, hochverschuldet, gegenseitig betrogen und auseinandergelebt, sieht Art nur noch einen letzten Ausweg, die Krise zu meistern. Der große Wurf beim Roulette im Casino soll die vermaledeite Situation retten. Zu diesem Zweck beschwören die beiden ihre gemeinsame Vergangenheit herauf. Sie buchen eine Busreise zu den Niagarafällen, wo sie vor dreißig Jahren bereits ihre Hochzeitsreise verbrachten. Mit ihrem letzten Barvermögen flüchten die beiden auf die kanadische Seite des Vergnügungszentrums der Niagarafälle, einer Mischung aus Las Vegas und Disneyland, und verprassen das Geld im großen Stil, wohlwissend, dass es vielleicht die letzte Gelegenheit ist, noch etwas Spaß zu erleben. Trotz der Aussichtslosigkeit ihrer Lage, ist ihnen der selbstironische Humor nicht abhandengekommen.

„Das hier schmeckt auch gut. Ein schönes Restaurant.“ Er deutete auf die andere Seite der Schlucht, wo der Wasserfall unaufhörlich hinabstürzte. „Ich find’s erstaunlich, dass es so leer ist.“ „Könnte an den Preisen liegen.“ „Das hier ist doch das billigere! Verglichen mit dem am Sonntag ist es wie Burger King.“ „Ab Montag dürfte Burger King ungefähr alles sein, was wir uns leisten können.“ „Ab Montag werden wir bei Burger King arbeiten.“ „Auf Burger King“, sagte sie mit erhobenem Glas. „Auf Burger King.“ Sie stießen miteinander an und tranken. „Ich glaube, bei Burger King herrscht gerade Einstellungsstopp.“

Nach außen hin wirken Art und Marion durchaus harmonisch, doch treten sie die Reise mit unterschiedlichen Erwartungen an. Der pragmatische Art kämpft unverdrossen um die Liebe seiner Frau und möchte sie bei passendem Anlass mit einem erneuten Heiratsantrag überraschen, während für Marion der Zug längst abgefahren zu sein scheint, von den Wechseljahren zermürbt, überdenkt sie ihr Leben und übernimmt den pessimistischen Part des ungleichen Duos in diesem Roman. Bei einem Konzert der amerikanischen Rockband Heart lehnen sich beide noch einmal gegen das drohende Alter auf, bekiffen und besaufen sich, bevor es am Schluss zum denkwürdigen Alles-oder-Nichts-Spiel am Roulette-Tisch kommt. In den nur 222 Seiten von Die Chance packt Stewart O’Nan zahlreiche Anspielungen auf die amerikanische Realität, dass es nur so eine Freude ist. Die Gegenüberstellung der beiden Charaktere ist präzise, detailliert, feinfühlig und schlichtweg famos. Mit Die Chance beweist O’Nan einmal mehr, dass er sich längst in die Ahnenreihe klassischer amerikanischer Schriftsteller wie John Steinbeck und John Updike geschrieben hat. Wer noch nichts noch Stewart O’Nan gelesen hat, besitzt nun die große Chance, diesen wunderbaren Autoren mit einem seiner besten Werke kennen und lieben zu lernen.

Stewart O’Nan: Die Chance, Rowohlt Verlag, Hardcover, 978-3-498-05042-9, 19,95 €.

stewart o’nan, die chance, chance, pop-polit, polit, buch, roman, literatur, hamburg, belletristik, review, kritik, besprechung, otremba, gerard, rowohlt, rowohlt verlag, steinbeck, updike

Kommentare

Kommentar schreiben