Die erste neue Single ließ es erahnen: St. Vincent ist nicht mehr im coolen Soulpop-Modus. „All Born Screaming“ klingt oft brutal düster. Und trotzdem wieder großartig.
von Werner Herpell
Irgend etwas muss passiert sein bei Annie Clark aka St. Vincent seit ihrem so entspannt im Soulpop- und Glamrock-Modus daherkommenden letzten Album. Zwar hatte vor drei Jahren auch „Daddy’s Home“ mit seinen recht persönlichen, unter anderem eine schwierige Vaterfigur thematisierenden Lyrics durchaus dunklere Seiten. Aber schon der Beginn von „Broken Man“, der ersten Vorab-Single aus Clarks neuem Werk „All Born Screaming“, ist doch von ganz anderem Kaliber – finster, unheilvoll, schonungslos: „On the street I’m a kingsize killer / I can make your kingdom come / On my feet I’m an earthquake shaking / So open up my little one“. Puh. Und die Musik hält damit Schritt – will heißen: St. Vincent goes Industrial, mit wütenden Gitarren und wüstem Electro-Noise.
Pure Freude – und Protest
„Wenn man mit einem Schrei zur Welt kommt, ist das doch ein gutes Zeichen. Schließlich bedeutet es, dass man atmet. Dass man lebt. Pure Freude“, so erklärt Annie Clark einen Aspekt des zweischneidigen Titel ihres siebten Soloalbum seit 2007 (wenn man das Duett-Werk „Love This Giant“ mit ihrem Helden David Byrne von 2012 mal rausrechnet). „Aber eben auch ein Protest. Wir alle kommen gewissermaßen protestierend auf die Welt. Es ist grausam, am Leben zu sein. Und es ist eine unfassbare Freude, am Leben zu sein. Es ist alles zugleich.“ St. Vincent hat also ein Album über die Schönheit und den Schmerz unseres Daseins auf diesem gequälten Planeten gemacht. Bei entspannter, cooler, cleverer Seventies-Popmusik konnte es da wohl nicht bleiben.
Wie ihre Chamäleon-Vorbilder David Bowie und Prince (und der erwähnte Herr Byrne) lässt sich Annie Clark auch mit „All Born Screaming“ einfach nicht fassen. Dass sie nicht in eine bestimmte Stil-Schublade passt, macht ihr Schaffen seit fast 20 Solo-Jahren im Musikbusiness so spannend. Besonders als Sängerin glänzt Clark auf den zehn neuen Songs mit so vielen Facetten, dass man ihre Leistung kaum mit dem noch etwas schüchternen Vortrag der ersten St. Vincent-Alben „Marry Me“ (2007) und „Actor“ (2009) zusammenbringt. Beispiel „Violent Times“: Falls es jemals wieder einen „007“-Film mit dafür notwendigem Eröffnungssong geben sollte, kommt man an einem Lied dieser Drama- und Power-Preisklasse kaum vorbei. Ganz großes musikalisches Star-Kino, inklusive mächtigem Gebläse. St. Vincent, übernehmen Sie für Mr. Bond! (Die Beyoncés, Dua Lipas und Swifts bleiben bitte zurück.)
Annie Clark geht „direkt zur Sache“
Natürlich zeigt sich Annie Clark auch als Gitarristin wieder von ihrer besten Seite – etwa in „Sweetest Fruit“ oder in „So Many Planets“ mit rohen, prägnanten Ausbrüchen, wie sie nur wenige Musiker an diesem Instrument hinbekommen. Dass „da auch so etwas Böses, Aggressives und Abgründiges in Clarks Gitarrenspiel lauert“, stellt das Label Virgin zu Recht fest – und verweist darauf, dass „ihre Noise-Band während der College-Zeit auf den Namen Skull Fuckers hörte“. St. Vincent selbst bestätigt: „Auf dieser Platte gibt es keine Drogen, auch keine Abstraktion. Stattdessen geht’s direkt zur Sache, rein ins Fleisch, rein in diesen Lebenshunger, auch wenn’s brutal wird. Denn das Leben ist schließlich brutal.“
Der (großartige) Opener des Albums heißt folgerichtig „Hell Is Near“, der zweite, ähnlich heftige Song „Reckless“, der dritte, ebenso gnadenlose Track „Broken Man“. Damit ist „All Born Screaming“ gewissermaßen das „Black Album“ von St. Vincent. Und ganz nebenbei das erste Studiowerk, das Clark komplett selbst produziert hat. „Bei dem hier musste ich einfach ganz allein durch die Flammen gehen“, meint die 41 Jahre alte Multiinstrumentalistin aus Oklahoma. „Anders hätte diese Suche zu nichts geführt. Ich musste allein mit mir selbst in einem Raum sitzen, drauflos singen, mit modularen Synthesizern herumspielen, Knöpfe drehen, Stromflüsse umleiten, und dann diese sechs Sekunden ausfindig machen, in denen alles passt – um daraus dann einen ganzen Song zu bauen.“
St. Vincent und ihre „absoluten Ripper“
Ganz allein war St. Vincent freilich nicht, um „etwas Aufregendes zu tun“, wie sie sagt. Dabei half ihr „ein kleines, eingeschworenes Abrisskommando, eine kuratierte Gruppe von absoluten Rippern“: Dave Grohl am Schlagzeug, der neue hauptamtliche Foo-Fighters-Drummer Josh Freese, Justin Meldal-Johnsen am Bass, Rachel Eckroth an den Keyboards, David Ralicke für die Blasinstrumente, und weitere Trommler-Asse mit dem Jazz-Virtuosen Mark Giuliana und Stella Mozgawa von Warpaint. Nicht zuletzt am Bass und als Ratgeberin: Cate Le Bon, die ja schon das neueste Wilco-Werk „Cousin“ im Vorjahr ungemein bereichert hatte.
Ist „All Born Screaming“ am Ende nun ein abweisendes Album? Mitnichten. Eher ein zwiespältiges und letztlich ein ehrliches. „Ich habe vermutlich einen ziemlich großen Umweg genommen, um das mit dieser Platte zum Ausdruck zu bringen, aber letzten Endes ist es ein sehr düsteres Album über die Liebe“, sagt Annie Clark. „Da ist so viel Liebe in meinem Leben. Ich bin echt glücklich. Was das angeht, bin ich nicht mehr die Ratte im Labyrinth.“ Es beruhigt dann doch einigermaßen, dass auch dieses dunkel schimmernde Artpop-Juwel wieder nur eine neue Verwandlungsstufe markiert. St. Vincent bleibt unvorhersehbar. Gut so.
Das Album „All Born Screaming“ von St. Vincent erscheint am 26.04.2024 bei Virgin Records. (Beitragsbild: Pressefoto)