Mit expliziter Sprache und ausgeprägtem Feingefühl zeichnet Sorj Chalandon eine ungeheuerliche Geschichte aus dem Jahr 1934 nach.
von Sebastian Meißner
Schon die erste von „Herz in der Faust“ reißt uns in einen Tagtraum, der wie ein Alptraum in rasselndem Atem beginnt: Gewalt, Blut, zerstörte Körper, Schreie. In diesem inneren Raum, in dem der junge Jules sich verliert, entlädt sich all der unterdrückte Hass, die Rage gegen Ungerechtigkeit, gegen Ausgrenzung und Erniedrigung. Er sieht nicht nur das Blutbad, er fühlt es: den metallischen Geschmack, den harten Boden unter den Füßen, die verzerrten Formen von Freund und Feind in der Dämmerung eines Wahnsinns, der zugleich ein verzweifelter Akt des Überlebens ist. Sorj Chalandon gelingt es mit diesem Einstieg meisterhaft, einen emotionalen Sturm nach innen zu zeichnen, der nicht nur schockiert, sondern auch tief bewegt – eine Implosion von Wut und Schmerz.
Handlung und historische Kulisse
Der Roman spielt in den 1930er-Jahren: Jugendliche mit delinquenter Vergangenheit werden in einer Strafkolonie in der Bretagne verwahrt – bis es zu einem Massenausbruch kommt. Die Bevölkerung, verlockt durch ausgesetzte Belohnungen, beteiligt sich an der Verfolgung der Flüchtigen. Der Rezensent Ulrich Rüdenauer hebt hervor, dass der junge Jules als einziger aus diesem Aufbruch entkommt. In der Enge der Besserungsanstalt spürt man diese klaustrophobische Atmosphäre – die Gitter, die Wände, die Gerüche – und Sorj Chalandon fängt sie ein mit einer naturalistisch geschulten Sprache. Ebenso packend sind die politischen Konflikte: Kommunisten und Faschisten ringen nicht nur mit Ideen, sondern mit menschlichen Leidenschaften. Dass Jules so viel Verantwortung und Trauma zugetragen wird – das mag überladen wirken –, doch gleichzeitig macht gerade diese Überfrachtung sein Innenleben umso plastischer und glaubwürdiger.
Die Qualitäten von Sorj Chalandon
Sorj Chalandon ist nicht nur Romanautor, sondern ein erfahrener Journalist und Reportage-Schreiber. Geboren 1952 in Tunis, tätig viele Jahre für die Zeitung Libération und später für Le Canard enchaîné, wurde er unter anderem mit dem Albert-Londres-Preis ausgezeichnet. Seine Stärke liegt in der Verbindung von historischer Tiefe und persönlicher Dringlichkeit: Chalandon weiß, wie man Fakten und atmosphärische Details so verwebt, dass sie nicht kalt wirken, sondern leben und atmen. In „Herz in der Faust“ nutzt er diese Erfahrung, um nicht nur äußere Szenarien – das Meer, die Bretagne, das Heim, die Flucht – detailliert herauszuarbeiten, sondern vor allem die Psyche seines Helden, dessen Traumata, Furcht und Sehnsucht in jedem Satz mitschwingen. Seine Sprache ist direkt, unangepasst, manchmal brutal – und gerade dadurch echt.
Explizit, ruppig, hart
Was „Herz in der Faust“ so beeindruckend macht, ist die Explizitheit. Sorj Chalandon scheut nicht davor zurück, die Härten und Abgründe offenzulegen: das Blut, die Gewalt, die Verzweiflung – nicht als voyeuristischer Effekt, sondern als Wahrheit, die gehört werden muss. Die Sprache ist ruppig, unverblümt, und doch von einer literarischen Kraft, die jede Härte trägt und zugleich Sinn stiftet. Wer bereit ist, sich darauf einzulassen, wird mit einem Roman belohnt, der nicht weichgespült ist, sondern Ecken und Kanten hat – ein Buch, das wirkt, nachhallt, mit Jules gehen lässt und ihn nicht einfach loslässt. Ein seltenes Meisterwerk der Unmittelbarkeit und Intensität.
Sorj Chalandon: „Herz in der Faust“, dtv, übersetzt von Brigitte Große, Hardcover, 400 Seiten, 978-3-423-28489-9, 25 Euro (Beitragsbild-Credit: JF Paga)
