Ein Bravourstück deutscher Erzählkunst
von Gérard Otremba
Die so späte Veröffentlichung des eigentlich zweiten Romans von Siegfried Lenz ist nachbetrachtend schlicht als skandalös zu bezeichnen. Skandalös insofern, als alle Literaturfreunde geschlagene 65 Jahre auf den brillanten Roman Der Überläufer warten mussten. Das erste, noch … da gibt’s ein Wiedersehen betitelte Manuskript ward einst vom für den Hoffmann und Campe arbeitenden Lektor Dr. Otto Görner zwar positiv aufgenommen, seine vorgeschlagenen und von Lenz vorgenommenen Korrekturen gingen Görner jedoch wohl nicht weit genug und er distanzierte sich immer mehr vom neuen Lenz-Roman. Zu weiteren Zugeständnissen war der damals 25-jährige Siegried Lenz nun aber nicht bereit und wandte sich anderen Schreibprojekten zu, nachdem er 1951 für seinen Debütroman Es waren Habichte in der Luft durchweg positive Kritiken erhielt.
Im Nachlass des 2014 verstorbenen Hamburger Schriftstellers wiederentdeckt, erreicht Der Überläufer nun die ihm gebührende Öffentlichkeit. 1951/52 war es schlicht ein von Otto Görner inszeniertes Politikum, den Roman letztendlich abzulehnen. Wahrscheinlich hatte der Stoff zu viel skandalträchtige Sprengkraft für die frühen Jahre der Bundesrepublik, als die Kriegsgeneration in einen gewissen Verdrängungs- und Vergessenheitsmodus verfiel. Der Überläufer ist die Geschichte des aus dem masurischen Lyck stammenden deutschen Soldaten Walter Proska, dessen Zug auf dem Weg an die Ostfront im Kriegssommer 1944 von einer Mine gesprengt wird. Proska überlebt und schließt sich einer kleinen, die Zuglinie sichernden Einheit an. Längst stehen jene Kameraden in den heißen Sümpfen des polnisch-weißrussisch-ukrainischen Grenzgebietes auf verloren Posten und werden von polnischen Partisanen bekämpft.
Eine merkwürdige, kleine Truppe, an der Siegfried Lenz die Sinnlosigkeit des Krieges verdeutlicht. Der Korporal Willi Stehauf ist längst ein zynischer, menschenverachtenden Vorgesetzter, der seine Untergebenen triezt, von Lenz geradezu satirisch beschrieben, der aus dem oberschlesischen Gleiwitz (zufälligerweise auch die Heimatstadt des Schreibers dieser Zeilen) stammende und im schönsten Schlesisch parlierende, „Schenkel“ genannte Jan Zwiczosbirski führt einen persönlichen, nimmermüden Kampf mit einem mächtig großen und klugen Hecht und der junge, mit dem Spitznamen „Milchbrötchen“ bedachte Wolfgang Kürschner erweist sich als verträumter, nachdenklicher Philosoph. Drei weitere, nicht minder interessante Figuren komplettieren die Truppe, die eines Tages von den Partisanen überwältigt wird. Walter Proska sieht sich dem nahenden Erschießungskommando gegenüber und rettet seine Haut als Überläufer zum Feind.
Ein weiterer Grund für diese schicksalsträchtige und einige fatale Folgen auslösende Entscheidung ist seine Liebe zur polnischen Partisanin Wanda, die er einst während seiner Zugfahrt traf, ihr wieder begegnete, sie schwängerte und nun die Hoffnung hegt, mit ihr nach dem Krieg möglicherweise ein neues Leben beginnen zu können. Zwei wohl zu schwer verdauliche Themen für Otto Görner, um einer Veröffentlichung des Romans Anfang der 50er Jahre zuzustimmen, genossen Partisanen damals nicht den besten Ruf in der deutschen Bevölkerung. Eine davon als deutscher Soldat auch noch zu lieben? Und zum Feind wechseln? Dieser Roman hätte Siegfried Lenz schlagartig weltberühmt gemacht. Es gibt Passagen, die kafkaesk anmuten, andere Stellen erinnern an das absurde Theater eines Samuel Beckett, doch hinter allen Stilmitteln steckt bereits der große Humanist Siegfried Lenz. Mit Der Überläufer hat Siegfried Lenz einen epochalen Beitrag zur deutschen Nachkriegsliteratur geleistet und ein Bravourstück deutscher Erzählkunst geschaffen. Ein fabelhafter Roman, der mit großer Verspätung in den literarischen Kanon eingeht.
Siegfried Lenz: „Der Überläufer“, Hoffmann und Campe, Hardcover, 978-3-455-81402-6, 19,99 €.
Hallo Gérard,
wir scheinen uns wohl beide mit dem Lenz-Fieber angesteckt zu haben. Ich genieße gerade nur kleine Häppchen, mit seinen Kurzgeschichten. Perfekt für zwischendurch! Deine Zeilen zu „Der Überläufer“ haben mich darin bestärkt die Lektüre irgendwann demnächst unter die Lupe zu nehmen. Ehrlich gesagt, kann ich es kaum erwarten.
Genieße die Sonne, solange sie scheint.
Herzliche Grüße,
Tanja
Hallo Tanja, ja, das scheint wohl so zus sein. Es wird aber etwas dauern, bis ich wieder die Zeit für ein Lenz-Buch finde. Und die Sonne tut richtig gut… Schöne Grüße, Gérard