Sebastian Stuertz: Das eiserne Herz des Charlie Berg

HAM.LIT 2020 Uebel & Gefährlich Sebastian Stuertz by Gérard Otremba

Herrliche, rasant erzählte Familien-, Liebes-, Künstler- und Adoleszenz-Geschichte von Sebastian Stuertz

Am Ende von „Das eiserne Herz des Charlie Berg“ sitzt die Familie wieder bei einem Hirschgulasch zusammen. In leicht veränderter Konstellation, aber das lässt sich nach einem knapp über 700 Seiten langen, vor wahnwitzigen Ideen überbordenden Roman kaum verhindern. Die Hirschgulasch-Essen der Familie Berg, die immer nach einer Reise eines Familienmitglieds stattfinden, sind legendär, erzählt man sich doch dort in trauter Runde Geschichten aus dem eigenen Leben. Je nach Blickwinkel und vergangener Zeit, erscheinen dieselben Stories in einem anderen Licht. Es wird stets hinzugedichtet und variiert, so dass alte Geschichten lebendig bleiben und nie in Langweile ausarten. Eine solch lebendige und mitreißende Geschichte erzählt auch Sebastian Stuertz in seinem Debütroman „Das eiserne Herz des Charlie Berg“.

Charlie Berg, der „Depp der Familie“

Wir befinden uns im Jahr 1993 und in wenigen Wochen möchte Charlie Berg seine Zivildienststelle in einem Leuchtturm annehmen, um dort in aller Ruhe seinen ersten Roman zu schreiben. Bei der Jagd mit seinem Opa pfuscht ein vermeintlicher Wilderer dazwischen,  und es stirbt nicht nur der Hirsch, sondern auch Opa, womit für Charlie Berg, der sich gerne als „Depp der Familie“ bezeichnet, die Probleme beginnen. Obwohl, Probleme hatte er schon früher genug, aber der bereits reichlich abgefahrene Einstieg bietet Sebastian Stuertz eine perfekte Ausgangssituation für die nachfolgenden, stets wilden und häufig bizarren Romanabläufe. Der 1974 geborene, in Hamburg lebende Medienkünstler, Musikproduzent und nun auch Schriftsteller fährt eine Garde an skurrilem Personal auf.

Sebastian Stuertz erfindet skurille Figuren

Sebastian Stuertz Das eiserne Herz des Charlie Berg Cover BTB

Charlie selbst leidet an einem sehr schwachen Herz und verfügt über ein hypersensibles Riechorgan, was Segen und Fluch zugleich für ihn bedeutet. Seit sieben Jahren ist der nunmehr 18-Jährige heimlich in Mayra verliebt, der mexikanischen Ziehtochter des besten Freundes seines Vaters, die kurz vor einer Eheschließung in ihrer Heimat steht und mit der er via per Post geschickter Videotapes in Kontakt steht. Charlies Vater Dito ist ein ständig bekiffter, Kind gebliebener Mann, der mit besagtem bestem Freund Stucki im abgefahrenen Krautrock-Experimental-Duo Toytronic Swing Ensemble musiziert. Hinzu kommt seine autistisch veranlagte, büchervernarrte kleine Schwester, die ausschließlich anhand von Buchzitaten mit anderen kommuniziert, sowie eine von der Familie getrennt lebende Mutter, die einst als Theaterregisseurin mit der Aufführung des Stückes „Hitlers Nutten bitten zum Tanz“ für einen echten Skandal sorgte. Und das sind nur die wichtigsten Protagonisten dieses umwerfend komischen, von absurden Einfällen und zahlreichen weiteren seltsam-schillernden Charakteren bevölkerten Buches. Charlie Berg schlittert von einer merkwürdigen Situation in die nächste und alles strebt auf den vermeintlichen Höhepunkt beim berühmten Vorlesewettbewerb für Debütanten „Text.Eval“ zu.

Sebastian Stuerz in bester John-Irving-Manier

In bester John-Irving-Manier und darüber hinaus begleitet Sebastian Stuertz die Achterbahnfahrt im Leben von Charlie Berg. Man kann sich herrlich fallen lassen in diese rasant erzählte, nie langatmig wirkende, abenteuerliche Familien-, Liebes-, Künstler- und Adoleszenz-Geschichte. Doch ist aufmerksames Lesen angebracht, dient die ausgeprägt humoreske Seite des Romans dem Autor immer wieder als Ablenkungstaktik für einen klug konzipierten, wie nebenbei laufenden Kriminalfall. Ein herrlicher Roman, der am Ende auch noch mit einer kleinen Element-Of-Crime-Huldigung aufwartet. Und wenn Sie mit den 720 Seiten fertig sind, haben Sie beim nächsten Familienessen mit Sicherheit viel zu erzählen.

Sebastian Stuertz: „Das eiserne Herz des Charlie Berg“, BTB, Hardcover, 720 Seiten, 978-3-442-75851-7, 22 Euro. (Beitragsbild von Gérard Otremba)

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