In ihrem fabelhaften Debütroman „Der Drahtzieher“ entführt Sarah Pines die Leser ins Sauerland der 20er-Jahre des letzten Jahrhunderts
von Gérard Otremba
Iserlohn im Sauerland. Dieses Jahr in die Schlagzeilen geraten, als dort die italienische Fußballnationalmannschaft bei der Europameisterschaft ihr Quartier bezog – und bereits im Achtelfinale an der Schweiz scheiterte. Mit den Roosters stellt die Stadt ein seit Jahren im unteren Drittel der Tabelle ansässiges Team in der Eishockey-Bundesliga. In der Nähe von Iserlohn wuchs die in der Zwischenzeit in New York lebende Sarah Pines auf. In Iserlohn und Umgebung der 1920er-Jahre spielt auch ihr vortrefflicher Debütroman „Der Drahtzieher“. Im Mittelpunkt steht Theodor Hugo Hasselt, Patriarch der zweitreichsten Familie im westlichen Sauerland und Besitzer einer florierenden Drahtziehereifabrik. Reicher in Sarah Pines Roman war 1926 nur die Stahlfabrikantenfamilie seines besten Freundes Albert.
Mehr als Eine Vierecksgeschichte
Albert kommt Theodor in die Quere, als er dessen Cousine Alba begegnet. Alba ist in Südafrika aufgewachsen, wohin Theodor geschäftlich unterwegs war. Schnell fand er an ihr Gefallen und als Alba Theodor eröffnete, von ihm schwanger zu sein, nahm er sie als Verlobte mit ins Sauerland. So wirklich schwanger war Alba dann doch nicht, ein erster böser Stachel in Theodors Beziehung zu ihr. Der zweite folgt, als Alba eine Liaison mit Albert beginnt, Theodor es auch weiß, ihr aber nichts beweisen kann und sie alles abstreitet. Theodors Eifersucht wandelt sich in Wut, die nicht selten in Gewalt an Alba endet. Gleichzeitig indes unterhält er eine geheime Beziehung mit Alberts Verlobter Marthe. Aber „Der Drahtzieher“ ist noch viel mehr als eine gelungene Vierecksgeschichte aus den sogenannten „Goldenen Zwanzigern“ des letzten Jahrhunderts.
Sarah Pines kann wahnsinnig gut erzählen
Sarah Pines entwirft in ihrem Erstlingswerk ein glänzendes Gesellschaftspanorama eines dekadenten deutschen Großbürgertums, das, weil viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, die Gefahr des nahenden Nationalsozialismus nicht erkennt. Auf den, sowie auf weitere in der Zukunft liegende Ereignisse und Entwicklungen verweist Sarah Pines als allwissende Autorin aus der Gegenwart, die mit einer überaus ambitionierten, amerikanischen Kollegen wie Jonathan Franzen oder Richard Powers nicht unähnlichen Sprachgestaltung zu überzeugen weiß. Die als Journalistin arbeitende Pines kann einfach wahnsinnig gut erzählen. Und erfindet in der Person des Theodor Hasselt eine zwiespältige Figur, die einerseits charmant, witzig und elegant auftritt, andererseits herrschsüchtig, arrogant und gewaltbereit. Sarah Pines schildert die Zeit und ihre dem Abgrund nahen und faszinierenden Protagonisten in einem immer wieder herrlich ironischen Tonfall.
Wie einst Heinrich Mann
Wie einst Heinrich Mann in „Der Untertan“ den Abgesang auf das Wilhelminische Zeitalter zeichnete (und dabei höchst visionär in die bedrohliche Zukunft sah), so steht auch in „Der Drahtzieher“ eine Gesellschaft vor dem Ende. Ebenso anspruchsvoll und originell gerät Pines‘ mitreißender Debütroman, der noch lange in den eigenen Gedanken nachhallt. Die literarische Latte hat Sarah Pines hiermit verdammt hoch gelegt. Man kann gespannt sein, was noch folgt.
Sarah Pines: „Der Drahtzieher“, Diogenes, Hardcover, 320 Seiten, 978-3-257-07278-5, 24 Euro. (Beitragsbild von Elena Mudd)