Sabine Peters: Ein wahrer Apfel leuchtete am Himmelszelt

Sabine Peters von Jutta Schwöbel

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit verwandelt Sabine Peters die Kindheit

Ernst Jandls Gedicht kindersprache, das die Autorin ihrem Roman als Motto voranstellt, formuliert eben jenen – äußerst produktiven – Widerspruch, aus dem heraus „Ein wahrer Apfel leuchtete am Himmelszelt“ seine poetische Kraft entfaltet. Je tiefer man in die Lektüre dieses Buches eintaucht, in diese Suche nach der verlorenen Zeit, umso wundersamer wird es einem zumute, umso mehr staunt man darüber, wie es der Autorin gelingt, das in der Tiefe des kindlichen Bewusstseins Verborgene einzuholen, es auszuloten und zu verwandeln.

Ein Dorf im Westerwald

Sabine Peters Ein wahrer Apfel leuchtete am Himmelszelt Cover Wallstein Verlag

Zunächst lernen wir den Mikrokosmos einer kleinbürgerlichen, bildungsorientierten und stark vom Katholizismus geprägten Familie kennen, die in einem Dorf im Westerwald lebt. Marie (nennen wir sie das literarische Ich der Autorin, das in jedem ihrer Bücher wieder neu begegnet, neu Gestalt annimmt) ist die zweitjüngste von vier Töchtern; es ist ein liebe- und humorvolles Zuhause, in dem Marie aufwächst. Wir nehmen Teil an ihren ersten Erinnerungen, tauchen ein in die Fantasiewelt des Kindes, die immer wieder neu entfacht wird von christlichen Glaubenssätzen, von biblischen Figuren und Geschichten, von Sagen um das Leben der Märtyrer. Wir nehmen Teil an kindlichen Ritualen, am Spiel der fortwährenden Verwandlung und Belebung aller Dinge, das die Geschwister miteinander verbindet.

Wir erleben Marie ins Spiel versunken im Garten der Eltern, bei der heimlichen Erkundung des Arbeitszimmers des Vaters, ihren Besuchen in der Nähstube der Mutter, der Einschulung, beim Umzug vom Dorf in die Stadt und erleben schließlich ihre ersten Jahre auf dem Gymnasium. Je älter Marie wird, je mehr dieser Mikrokosmos durch andere soziale Kontakte aufgebrochen wird, desto deutlicher zeigt sich, dass die Wahrnehmungsperspektive Maries nicht nur subjektiv-individuelle Erinnerungen ans Licht zu holen vermag, sondern soziale Milieus vielschichtig und differenziert erkennbar werden lässt.

Sabine Peters macht Erfahrungen durchsichtig

Sabine Peters redet nicht über Kindheit hinweg; Kindheit und kindliche Erfahrungen werden nicht festgemacht an dem, was in der Pop-Literatur unserer Tage als Oberfläche erscheint, also an zeitspezifischen (und auf schnelles Wiedererkennen hin ausgewählten) Markern, die als Chiffren für Generationenerfahrungen stehen. Vielmehr werden Erfahrungen durchsichtig gemacht, so dass die Komplexität der Lebensverhältnisse in der Bundesrepublik der sechziger und frühen siebziger Jahre hindurchscheint. Marie wächst auf in den Zeiten des Kalten Krieges, der das Bewusstsein der Menschen, auch das des Vaters, prägt. Überhaupt spielt der Vater eine wichtige Rolle.

Zweifel an Autoritätsgläubigkeit

Er macht es sich nicht leicht, will sich nicht abfinden mit der Arbeit im Archiv eines Eisenwalzwerkes, er kündigt und versucht sich eine Zeitlang als freier Journalist, um schließlich als Lehrer zu arbeiten. Er weckt die Fantasie der Kinder, hält sie an, genau hinzuschauen, sich des eigenen Verstandes zu bedienen, sät früh in Marie den Zweifel an Autoritätsgläubigkeit und pflanzt ihr eine Freude an der Sprache ein, eine Freude daran, jedes Wort um- und umzustülpen. Vielleicht das Wichtigste, das der Vater seinen Kindern mit auf den Weg gibt, ist das Bewusstsein, eine Geschichte zu haben.

Im letzten Abschnitt katapultiert Sabine Peters die Leser in die Gegenwart

Nicht zufällig endet das literarische Erinnern an Maries Kindheit und die frühe Jugend mit dem Tod der Großmutter, der in gewohnt zurückhaltender Manier und dennoch zutiefst berührend geschildert wird. Was der kleinen Marie nicht möglich schien, passiert nun doch: Wir stürzen aus der Welt. „Alle Kinderfreuden, alle Kinderschmerzen hatten ausgeschlagen und sie waren nun verwachsen, ausgewachsen oder zugewachsen.“ Den Zauber aber, die Erinnerungen an einen familiären Raum, der Geborgenheit gibt und die Mädchen auf ein Leben in Mündigkeit vorbereitet, nehmen wir mit. Auch wenn uns der als „Kadenz“ ausgewiesene letzte Abschnitt des Romans in die Gegenwart katapultiert, in der die Zeiten unvermittelt aufeinanderprallen.

Ein Wirbel aus Erinnerungen

So unvermittelt, dass der Vater bei dem vergeblichen Versuch, „diese Zeit zu packen“, aus der Haut fährt. Die Ordnung der erzählten Welt wird aufgehoben, Deutungsmuster werden brüchig, viele Stimmen lagern sich um uns her, wir werden hineingezogen in einen Wirbel aus Erinnerungen; an Menschen, an Worte, an Gesehenes und Gefühltes. Erzählzusammenhänge lösen sich auf in Bilder sich fortwährend verwandelnder Gestalten. Und schöner als in den gedachten Worten des Hausierers kann man es nicht ausdrücken: „Jeder, der hier auftaucht, meint, er sei der Erste, Letzte, Einzige, obwohl er doch Teil einer Reihe ist, die aus dem Nebel kommt und sich nach dorthin fortsetzt.“

Sabine Peters: „Ein wahrer Apfel leuchtete am Himmelszelt“, Wallstein, Hardcover, 184 Seiten, 978-3-8353-3848-7, 20 Euro. (Beitragsbild von Jutta Schwöbel)

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