Wilco krönen den Rolling Stone Weekender 2016
Text und Fotos von Gérard Otremba
Nachdem ich am ersten Tag des Rolling Stone Weekenders 2016 unbewusst ausschließlich Konzerte amerikanischer Künstler besucht hatte, so war meine Auswahl am zweiten Tag deutlich internationaler geprägt. Zunächst führt der Weg in den Baltic Festsaal zu Blaudzun. Das ist der Künstlername des niederländischen Musikers Johannes Sigmond, der im Festsaal mit einer sechsköpfigen Begleitband auftritt und mit den Songs seines vor wenigen Wochen veröffentlichten neuen Albums Jupiter sein Händchen für großangelegten Pop, der von den Beatles bis zu Ben Folds Five ein reichliches musikalisches Spektrum abdeckt, beweist. Blaudzun ist ein charismatischer Musiker, der die bitter-süßlich-melancholischen Melodien genauso beherrscht wie die dramatische Pop-Grandezza, die zwischen Indie-Pop und Mainstream changiert.
Der straffe Zeitplan eines Festivals (zumal in fotografischer Hinsicht) erlaubt häufig nur Stippvisiten bei einigen Auftritten und so wartet bereits Aldous Harding in der Alm. Die neuseeländische Sängerin hat im Frühjahr mit ihrer selbstbetitelten Platte bei Sounds & Books bereits für Schlagzeilen gesorgt und auch den ersten drei Songs ihres Gigs beim Rolling Stone Weekender liegt eine mystische, zutiefst betörende und fragile Aura zugrunde. Hardings Vortrag mit der akustischen Gitarre geht unter die Haut, die Verzweiflung ihrer Texte findet im Klang ihrer Stimme den perfekten Ausdruck.
Nach nur wenigen Minuten geht es mit Agnes Obel im Zelt weiter. Die dänische Songwriterin am Piano wird von drei jungen Damen an Cello, Klarinette, Percussion und Harfe begleitet und verzaubert das dortige Publikum mit anmutiger Engelsmusik. Erhabener und schöner Chamber-Pop mit elektronischen Versatzstücken, manchmal hymnisch, manchmal dramatisch-traurig inszeniert.
Anschließend treten im Baltic Festsaal Kula Shaker auf und auch hier bleibt aus zeitlichen Gründen nur ein kurzer Verweilmoment, um den Räucherstäbchenduft zu genießen und den Brit-Pop von Kula Shaker goutieren zu können. Mit der psychedelischen Note und seinem Hang zur indischen Mystik führt Sänger und Gitarrist Crispian Mills die musikalische Tradition eines George Harrison fort. Das macht er gut und das macht er an diesem Abend voller Energie.
Jedoch wartet auf der Zeltbühne bereits Funny van Dannen. Der Berliner Liedermacher hat mit come on – Live im Lido Ende Juli sein neues Album veröffentlicht und präsentiert gutgelaunt und selbstironisch einige darauf enthaltene Songs, die zu zahlreichen Lachern auf der Publikumsseite führen. Typisch Funny van Dannen eben, aber wer kann sich das Lachen bei „Schön singen“, „Der Albtraum“, „Latente Homosexualität“ oder „Frozen Yogurt“ schon verkneifen? Und alte Klassiker wie „Nana Mouskuri“, „Alles verkauft“, „Eurythmieschuhe“, „Posex & Poesie“, „Menschenverachtende Untergrundmusik“ und selbstverständlich „Schilddrüsenunterfunktion“ werden gerne genommen und machen den Auftritt Funny van Dannens wie immer zu etwas ganz Besonderem.
Die englische Band Tindersticks sorgt danach für die düsteren Momente des Abends. Die Trauer, die Schwermut, die Romantik, die Eleganz sind immer noch vorhanden in der Musik der Tindersticks. Auch das Liebliche und die Grandezza gehören zu der Band um den so schön nuschelnden Sänger Stuart A. Staples. Leider setzt sich die Setlist des Tindersticks-Konzertes beim Rolling Stone Weekender fast ausschließlich aus den letzten beiden Alben The Waiting Room und The Something Rain zusammen. Das ist zwar alles traumhaft schön und gekonnt in Szene gesetzt, ein paar Klassiker aus den Frühwerken wären jedoch wünschenswert gewesen.
Eine wesentlich ausgewogenere Setlist bietet zum Abschluss dann Wilco. Nach 2009 und 2011 ist die Band aus Chicago bereits zum dritten Mal Headliner beim Rolling Stone Weekender und sie wird von Jahr zu Jahr perfekter. Von den 21 Songs, die Jeff Tweedy mit seinen Musikern in den 90 zur Verfügung stehenden Minuten spielen, sind lediglich vier vom unlängst veröffentlichten, zehnten Studio-Album Schmilco und immerhin fünf vom überragenden Meisterwerk Yankee Hotel Foxtrott, darunter das in der Wilco-Historie eher selten live aufgeführte „Reservations“. Konzerthöhepunkt natürlich „Impossible Germany“ (ein heißer Kandidat für den besten bisherigen Wilco-Song), bei dem Gitarrist Nels Cline seine Fingerfertigkeit beim so herrlich lyrischen Solo unter Beweis stellen kann. Wilco ist eine der wenigen zeitgenössischen Bands der absoluten Extraklasse und kann in Deutschland noch am 07.11. im Berliner Tempodrom begutachtet werden (Sounds & Books wird berichten).
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