Ein lebendiger, satirischer und idealistischer, mit dem Deutschen Buchpreis gekrönter Gesellschaftsroman
Über genügend Selbstironie verfügt Robert Menasse, das muss man ihm lassen. Der 1954 geborene österreichische Autor ist ein EU-Spezialist, ein Europa-Befürworter durch und durch, schrieb den Essay „Der Europäische Landbote“, hielt am 21. März 2017 eine Rede zum 60. Jahrestag der Römischen Verträge im Europäischen Parlament, in der er die Überwindung der Nationalstaaten forderte, wohnte eine gewisse Zeit in Brüssel und beschäftigt sich seit mehreren Jahren mit dem Werdegang Europas. Robert Menasse ist ein Idealist, der die Ideale in seinem neuen Roman Die Hauptstadt einer schweren Prüfung unterzieht.
In Menasses mit dem Deutschen Buchpreis 2017 ausgezeichneten Roman wimmelt es von vielfältigen Protagonisten und Erzählsträngen, die sich parallel entwickeln und kongenial zusammenlaufen. Die für die kulturellen Belange der EU zuständige, nach höheren Weihen strebende Griechin Fenia Xenopoulou beauftragt ihren österreichischen Referenten Martin Susman, eine Kampagne zur Imageverbesserung der EU zu gestalten. Für Susman, glücklich dem heimatlichen Bauernhof entflohen zu sein und seines Bruders Streitgespräche über die Schweinezucht auf ein Minimum reduzieren zu können, sieht die EU in einer ethischen Verantwortungspflicht wider des Nationalismus und möchte die Parole „Nie wieder Auschwitz“ in den Mittelpunkt der Imagekampagne stellen. Dass die Verwirklichung eines Festaktes durch Intrigen, Grabenkämpfe, nationale Interessen und persönliche Eitelkeiten letztendlich scheitert, ist ein Seitenhieb Menasses an die strukturelle Bürokratieproblematik der Brüsseler EU. Allein, die Hoffnung stirbt zuletzt.
Ideale verkörpern auch der in einem Altenheim auf sein Lebensende wartende, in seiner Jugend von einem Todeszug gesprungene, seine Eltern dort zurücklassende David de Vriend sowie der emeritierte Professor für Volkswirtschaft, Alfred Erhart, der mit einer Rede auf einem Think-Tank der EU-Kommission für Aufsehen sorgt. Weitere wichtige, und nur scheinbare Nebenfiguren sind Kommissar Brunfaut, der einen Mordfall nicht aufdecken darf, ein polnischer Auftragskiller mit Verbindungen zum Vatikan und ein durch Brüssel laufendes, von Robert Menasse als Running Gag mit Symbolcharakter eingesetztes Schwein. Die Hauptstadt ist sowohl ein politisch-theoretischer als auch ein lebendiger, satirischer, aufrüttelnder und nachdenklich stimmender Gesellschaftsroman.
Obwohl Ideale zu Grabe getragen werden, ist Die Hauptstadt ein von humanistischen Idealen eines vereinten Europas geprägtes Buch. Robert Menasse weiß zu gut, dass man Ideale manchmal mit einem pessimistischen Unterton erzählen muss, um sie umso vehementer im positiven Licht erstrahlen zu lassen. So ist Die Hauptstadt ein wichtiges und aktuelles zeitgenössisches Werk sowie ein würdiger Vertreter auf der Siegerliste des Deutschen Buchpreises. Und wenn man sich als Leser auf die Vielzahl der von Menasse präzise vorgestellten Personen, Ideen und Handlungsstränge einlässt, ist einem ein großes Lesevergnügen auf anspruchsvollem literarischem Niveau gewiss.
Robert Menasse: „Die Hauptstadt“, Suhrkamp Verlag, Hardcover, 459 Seiten, 3-518-42758-3, 24 €.