Reeperbahn Festival 2019: Vier Abende auf St. Pauli

Reeperbahn Festival 2019 AYU by Gérard Otremba

Mit Feist, Sofia Portanet und vielen anderen durch das Reeperbahn Festival 2019

Nichts Unübliches bei Festivals ist die Entscheidungsfindung bei parallel stattfindenden Konzerten. Beim Reeperbahn Festival 2019 warteten schwierige Entschlüsse auf Sounds & Books, spielten nun wahrlich zahlreiche auf diesem Online-Magazin vorgestellte Künstler zeitgleich. Die Problematik stellte sich gleich zu Beginn der Veranstaltung. Nachdem der Mittwoch mit einem feinen Solo-Konzert der amerikanischen Indie-Folk-Songwriterin Molly Sarlé begonnen hatte, die einige Jahre in der Trio-Band Mountain Man verbrachte und Songs ihres am 20.09.2019 veröffentlichten Debütalbums „Karaoke Angel“ vorstellte, begann das Auswahl-Dilemma. Der Verzicht auf den Gig der hier bereits schwer gelobten Indie-Pop-Band Happyness wog schwer, aber ein Besuch in der Nochtwache für nur zwei Songs konnte nicht des Rätsels Lösung sein. Auch Ider und Bedouine wären formidable Optionen gewesen.

Dope Lemon und Sofia Portanet

Allein die Wahl fiel auf eine 15-minütige Stippvisite ins Stage Operettenhaus, wo Dope Lemon, die Band um Sänger und Gitarrist Angus Stone, dem Folk-Rock die schwere Bluesnote zufügte. Untergeordnet war die Entscheidung der Tatsache, dass um 21.45 Uhr Sofia Portanet mit ihrer vierköpfigen Band im Kukuun spielte, die Laufwege zwischen den Locations berücksichtigend. Wer vier Singles herausbringt, die allesamt bei Sounds & Books zum Song des Tages gekürt worden sind, den muss man bei einer Gelegenheit wie dieser live erleben. Auftritt und Musik der Berliner Sopranistin changierten zwischen Diva und Femme Fatal, zwischen Lene Lovitch und Kate Bush, charmant, artifiziell, eine Mischung aus NDW, Post-Punk und French Pop. Das Debütalbum ist in Arbeit, ein Veröffentlichungstermin allerdings noch nicht bekannt. Sounds & Books bleibt selbstverständlich an diesem Thema dran.

Feist beim Reeperbahn Festival 2019

Der krönende Abschluss des ersten Tages beim Reeperbahn Festival 2019 war das anschließende Feist-Konzert, wiederum im Stage Operettenhaus. Seit vielen Jahren schon gehört die kanadische Songwriterin zu den herausragenden Größen des Musikbusiness und der 70-minütiger Auftritt unterstrich einmal mehr ihre ganze Klasse. Intensiv, impulsiv, witzig, experimentell und feingeistig. Und wer kann Songs wie „A Commotion“, „I Feel It All“ oder „1234“ schon widerstehen? Musik zum Niederknien. Feist beim Reeperbahn Festival war ein echter Coup.

The Bad Tones und Suzan Köcher

Die Teilnahme an den VUT Indie Awards (herzlichen Glückwunsch allen Gewinnern) musste dieses Jahr für Sounds & Books leider ausfallen, die Live-Musik war wichtiger, so dass der erste Stopp am zweiten Tag beim Reeperbahn Festival 2019 dem Thomas Read vorbehalten war, wo im Keller des Irish Pubs The Bad Tones aus Estland für den nötigen Adrenalinstoß sorgten. Das Rigaer Quartett, dessen aktuelles Album „Is It Good Enough?“ an dieser Stelle bereits besprochen worden ist, bewies mit virtuoser Spielfreude seine Live-Qualität. Ihr Psychedelic-Blues-Folk-Rock, irgendwo zwischen Pink Floyd, Canned Heat, CSN&Y und Fleet Foxes ist eine der Entdeckungen des Jahres. Im berühmten Kaiserkeller ging es anschließend mit Suzan Köcher und ihrer Band weiter, die wir bei Sounds & Books ebenfalls schon im Programm hatten. Das Quartett aus Solingen verzauberte das Publikum mit ihrem hypnotisierenden, traumhaft schönen, sanft psychedelischen Folk-Rock, wie man es im Vorfeld nur erhoffen konnte. Ein schier unerschöpflicher Melodiereigen scheint Köcher und ihren drei männlichen Begleitern in die Wiege gelegt worden zu sein. Das am 08.11. erscheinende Album „Suzan Köcher’s Subrafon“ kann nur ein gutes werden.

Das Reeperbahn Festival 2019 mit Sylvie Kreusch und Celeste

Ihren groovenden Rhythmen gab sich im Angie’s Nightclub Sylvie Kreusch hin, einigen auch als Mitglied von Warhaus bekannt. Die belgische Sängerin und Songwriterin trat zum ersten Mal als Duo gemeinsam mit ihrem Gitarristen auf, bot einen intensiven, ekstatischen und expressiven Electro-Urban-Indie-Art-Pop-Stilmix und brachte die vorderen Reihen zum Tanzen. Als eines der absoluten Highlights des diesjährigen Reeperbahn Festivals entpuppte sich der Auftritt von Celeste im Imperial Theater. Die junge britische Sängerin ist mit einer Stimme irgendwo zwischen Aretha Franklin und Shirley Bassey gesegnet und sang, begleitet von ihre fünfköpfigen Band (Keyboard, Schlagzeug, Gitarre, Bass, Saxophon), die schönsten traurigen Soulsongs, die man sich nur so vorstellen kann. Berührende, bewegende und betörende Musik, die am Ende zu Standing Ovations führte. Die erste EP „Lately“ ist auf dem Markt und nach diesem Konzert warten wir umso sehnsüchtiger auf ein Celeste-Album.

AYU und Cari Cari

Am Freitag zog es Sounds & Books zunächst auf den Spielbudenplatz, wo auf der Viva Con Aqua-Bühne AYU in Triobesetzung auftrat. Ein beherztes und charmantes Kurzkonzert der talentierten Schweizer Indie-R&B-Electro-Pop-Songwriterin, die seit zwei Jahren in Hamburg lebt und die wir bereits mit zwei Songs des Tages zu würdigen wussten. Den zahlreichen Festival-Besuchern vor der kleinen Bühne hat der Auftritt sichtlich Spaß bereitet. Den hatte das Publikum bei Cari Cari im Mojo Club definitiv ebenfalls. Das smarte und charmante österreichische Duo Stephanie Widmer und Alexander Köck – live um einen Schlagzeuger ergänzt – überzeugte auf ganzer Linie. Sixties-Psychedelic-Pop, staubtrockener Desert-Blues-Rock, Rock-Noir, Future-Pop, Cari Cari ist nichts fremd und alles beherrschen sie. Widmer verbreitet Didgeridoo-Klänge, Köck posiert als Gitarrenheld und sollte Quentin Tarantino noch einen Film drehen, der Kontakt ist aufgenommen, ein Song im nächsten Soundtrack sollte drin sein. „Und wenn nicht, überleben wir es auch. Das Leben ist bei Konzerten wie diesen auch schön“, meinte Alexander Köck. Finden wir auch.

Emma McGrath und ClickCklickDecker auf dem Reeperbahn Festival 2019

„Die war ja süß“, sagte eine Besucherin nach dem Emma McGrath-Gig im Imperial Theater. In erster Linie ist die britische Songwriterin mit 19 Jahren noch sehr jung. Und sehr begabt. Mit ihrer vierköpfigen Band gab sie einen Einblick in ihr bereits vielfältiges Songrepertoire, das mit catchy Popmelodien aufwartete und teilweise an die zugänglichen Tracks von Feist erinnerte. Sehr schön. Der Abschluss des dritten Tages bei Reeperbahn Festival 2019 blieb ClickClickDecker im Gruenspan vorbehalten. Songs des Ende letzten Jahres veröffentlichen, formidablen Albums „Am Arsch der kleinen Aufmerksamkeiten“ wechselten sich mit älteren Liedern der nunmehr sechs Alben umfassen Karriere des Trios aus Hamburg und Berlin. Kevin Hamann, Oliver Stangl und Sebastian Cleemann fanden in ihrer Setlist die richtige Balance aus forschem Indie-Rock und filigranem Songwriter-Indie-Pop. Und man mir jemand erklären, wieso Songs wie „Läuft es eher daneben“, „Minutenklopfer“, „Die Nutzlosen (unentbehrlich)“ oder „Das ganze halbe Liter“ nicht schon längst von allen gesungenes Kulturgut sind? Wie auch immer, großartige Band, die sich bitte nicht zu viel Zeit mit einem nächsten Album lassen sollte.

Mia Morgan und Pauls Jets

„Ich bin Mia Morgan aus dem Internet.“ Das ist doch mal eine Ansage. Aber schön, dass Internet-Stars auch live auf der Bühne auftreten. Wie Mia Morgan am vierten und letzten Tag des Reeperbahn Festivals 2019 auf der Bühne der Spielbude am Spielbudenplatz. In Begleitung eines DJs erfreute die neue deutsche Indie-Gruft-Pop-Hoffnung diverse junge weibliche Fans sowie etliche jung gebliebene Menschen aus der Elterngeneration. Die in Kassel aufgewachsene Sängerin überzeugte mit originellen Texten, eingängigen Melodien und einem guten Draht zum Publikum. Mia Morgan hat das Potential, die deutsche Indie-Szene aufzumischen. Im Headcrash gastierte anschließend das österreichische Trio Pauls Jets, das wir bei Sounds & Books bereits mit einem Song des Tages vorgestellt haben. Pauls Jets boten eine kreuzfidele Mischung aus melodiösen Indie-Pop und Indie-Rock mit Punk-Attitüde und artifiziellem Touch, beheimatet irgendwo zwischen Talking Heads, Franz Ferdinand und Pixies. Einen „echten“ Schlager hatten sie ebenfalls im Programm, aber den dekonstruierten Sänger Paul Buschnegg, Bassistin Romy Park und Schlagzeuger Xavier Plus dann doch auf ihre eigene kreative Art. Und vergaßen leider die CDs ihres Debütalbums „Alle Songs bisher“ in Wien.

Rebecca Lou und Suzanne Santo

In der „Danish Night“ im Indra – dort wo einst die Beatles erstmals in Hamburg gastierten – folgte das Konzert von Rebecca Lou. In ihrem Heimatland schon schwer gefeiert, beschwor das Energiebündel mit Hilfe ihrer dreiköpfigen Herrenband die pure Kraft des Rock’n’Roll, gepaart mit rotzigen Punkanleihen. Lemmy Kilmister und Beth Dito hätte dieser Auftritt sicherlich gefallen, die Gäste im Indra waren begeistert. Am 19.10. erscheint die Rebecca-Lou-Debüt-EP „Skeletons“. Ihr Solo-Debütalbum „Ruby Red“ hat die amerikanische Songwriterin Suzanne Santo, seit einem guten Jahrzehnt als Mitglied des Duos Honeyhoney unterwegs, schon veröffentlicht. Im Imperial Theater legte die stimmgewaltige Sängerin, Gitarristin und Violinistin in Trioformation mit ihrer Mischung aus Americana, Roots- und Blues-Rock sowie Country-Pop einen mitreißenden Auftritt hin. Bonnie Riatt meets Jack White. Santo sang einerseits sehnsüchtig und vermochte andererseits mit schmetternden Gesangseinlagen zu punkten. Ein perfekter Abschluss des Reeperbahn Festivals 2019 für Sounds & Books. Gerne hätte man noch die an diesem Abend im Programm stehenden Konzerte von Stars, Botschaft und Ida Mae gesehen, doch zeitgleiche Ansetzungen verhinderten dieses Vorhaben. Dann jedoch bei nächster Gelegenheit.

Weitere Fotos vom Reeperbahn Festival 2019 gibt hier und hier.

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