PJ Harvey: The Hope Six Demolition Project – Album Review

Große Kunst mit PJ Harvey

von Gérard Otremba

Mit Let England Shake rüttelte PJ Harvey vor fünf Jahren kräftig am Thron eines längst untergegangen britischen Imperiums. Viel öfter benötigten Regierungen und Gesellschaften jene künstlerischen Wachmacher, Zeitzeugen, die widrige Zustände beschreiben und eingeschlagene Richtungen eventuell zu korrigieren vermögen. Polly Jean Harvey ist zweifellos eine Künstlerin, die musikalische Ästhetik und Textaussage in perfekten Einklang bringt. Let England Shake war ihr bis dato bestes Album, der Nachfolger The Hope Six Demolition Project schließt sich nahtlos an seine Vorgänger an.

In ihrem neunten Studio-Album wagt sich die 46-jährige Sängerin aus England raus. Sie bereiste das Kosovo, Afghanistan und schaute sich in Washington D.C. um. Gesehen hat sie Länder der Kriege und Vernichtungen, der Not und des Abgrunds. PJ Harvey beweist sich in ihren Texten als Chronistin und detailreiche Beobachterin, eine Poetin im niederschmetternden Realismus. The Hope Six Demolition Project entstand letztes Jahr im Londoner Somerset House, die Aufnahmen mit ihrer Band machte Harvey durch die Ausstellung „Recording in Progress“ für die Öffentlichkeit zugänglich. Hinter einer Glaswand konnte man Zeuge der Sessions werden, ohne dass die Band die Zuschauer sehen, und sich auf ihre Arbeit konzentrieren konnte. Mehr Transparenz geht nicht.

Mit dem flockigen, hymnischen, Sixties-Garagen-Pop von „The Community Of Hope“ startet der Longplayer, ein munterer Aufgalopp, bevor es verstörend und dramatisch mit martialischen Akkorden in „The Ministry Of Defence“ weitergeht. Ein schräges Saxophon sorgt für ganz und gar ungute Gefühle. Hymnik gibt es auch hier noch reichlich, doch schieben sich hier durchaus auch die Einstürzenden Neubauten ins Bild. „A Line In The Sand“ lebt vom hohen, engelhaften Gesang Harveys, in „Chain Of Keys“ dann plötzlich eine Marschtrommel, wieder bedrohliche Saxophonklänge, die Hoffnungslosigkeit ist atmosphärisch greifbar. In „River Anacostia“ singt Harvey klagend und betörend gleichzeitig, einem Gospel nahekommend, „Near The Memorials To Vietnam And Lincoln“ gerät chorlastig und schmetternd im Refrain, „The Orange Monkey“ zu alptraumhaften Begegnung, trotz der mystisch-schönen Melodie.

Das kurze „Medicinals“ changiert zwischen Anmut und Erschütterung, „The Ministry Of Social Affairs“ ist ein an den Nerven zerrender Blues-Jazz, das Saxophon wild, rau und unergründlich. „The Wheel“ dann rhythmischer und galoppierender Indie-Pop-Rock, im abschließenden „Dollar, Dollar“ dominiert ein wehmütiges Saxophonsolo. The Hope Six Demolition Project von PJ Harvey ist ein schroffes, gefährliches und abgrundtiefes Album geworden. Gewöhnungsbedürftiger als das Meisterwerk Let England Shake, aber ebenfalls große Kunst. Und PJ Harvey bleibt nach wie vor eine der aufregendsten Musikerinnen unserer Zeit.

„The Hope Six Demolition Project“ von PJ Harvey erscheint am 15.04.2016 bei Island Records / Universal Music.

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