Sieben Jahre nach ihrem letzten Album meldet sich PJ Harvey zurück. Wohin geht ihre Reise mit dem zehnten Album „I Inside The Old Year Dying“?
von Gérard Otremba
Nach ihrer Tour zum letzten Album „The Hope Six Demolition Project“ (2016) fühlte sich PJ Harvey verloren im wiederkehrenden Zyklus aus Album und Tournee, die Verbindung zur Musik selbst kam ihr abhanden, an das Schreiben neuer Songs war für sie in diesem besorgniserregenden Zustand zunächst nicht zu denken. Das Spielen ihrer Lieblingssongs von Nina Simone bis Bob Dylan sowie der Rat des Filmemachers Steve McQueen, nicht in der Kategorie Album zu denken, sondern sich daran zu erinnern, was sie an Worten, Bildern und Musik liebe, brachte sie zurück in die Spur.
Von den Gedichten zu den Songs
Auch durch die Arbeit an ihrem Gedichtband „Orlam“ fand Polly Jean Harvey zurück
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zum kreativen Prozess. Gleichsam diente „Orlam“ der 53-jährigen, britischen Songwriterin als Inspirationsquelle für ihr zehntes Studioalbum „I Inside The Old Year Dying“. Gleich mit dem Opener „Prayer At The Gate“ knüpft PJ Harvey an die in „Orlam“ erzählte Geschichte der neunjährigen Ira an und verkündet schon in der ersten Zeile das Ende der Kindheit („As childhood died the old year/made the Soldier reappear“). Auf „I Inside The Old Year Dying“ geht es um Verlust, Liebe, Tod, Gott und Elvis Presley. Die unter der Regie der Langzeit-Weggefährten John Parish und Flood in Live-Sessions und Improvisationen aufgenommenen, dezent-kargen Folksongs sind von einer naturalistisch-versponnenen Mystik durchtränkt, geprägt von zumeist beklemend-bedrohlich-sinisteren Klängen. Elektronische Sounds und gelegentliche Noise-Attacken („I Inside The Old Year Dying“, „A Noiseless Noise“) vervollständigen das musikalische Bild.
Die poetische Schönheit der PJ Harvey-Songs
Es sind häufig schwer zugängliche, aber auch magische Songs, die uns PJ Harvey flüsternd, flehentlich und singend vorsetzt. Trotz einiger dieser Klippen wirkt das Album tröstend in seiner eskapistischen Art. Aber viele Songs sind auch von poetischer Schönheit. Das würdevolle, von Sounds & Books als Song des Tages vorgestellte „A Child’s Question, August“, oder das zarte „Lwonesome Tonight“, oder das himmlische „The Nether-edge“. Ein erhebendes Album, das Vergangenheit mit der Gegenwart verbindet und trotzdem außerhalb von Raum und Zeit steht. Manchmal verschlägt es einem den Atem, manchmal zerrt es an den Nerven. Eine der intensivsten Musikerfahrungen dieses Jahres.
„I Inside The Old Year Dying“ von PJ Harvey erscheint am 07.07.2023 bei Partisan Records / PIAS / Rough Trade. (Beitragsbild von Steve Gullick)