Wolfsegg – der Schauplatz des gleichnamigen Romans von Peter Keglevic ist alles andere als ein Ort, an dem sich Hase und Igel Gute Nacht sagen.
Sich „Wolfsegg“, den zweiten Roman von Peter Keglevic, in der Buchhandlung schlicht unter Fiktion und nicht unter Brachialliteratur einsortiert vorzustellen, fällt schwer. Verdient hätte es das Werk, das in seiner Brutalität, zumindest im deutschsprachigen Literaturbetrieb, wohl eher die Ausnahme bildet. Dass in „Wolfsegg“ nicht eben utopische Verhältnisse zu erwarten sind, lässt bereits das fast erschlagend wirkende Coverbild eines im Schatten einer imposanten Gebirgswand liegenden Tales vermuten. Eine Vermutung, die von der dem Schutzumschlag zu entnehmenden Inhaltsangabe inklusive beigestelltem Prädikat gestützt wird:
„Ein enges Tal in den Bergen: Die 15-jährige Agnes, die so gern ein »Autoschrauber« werden würde, sehnt sich nach Liebe und einer Heilen Welt. Doch sie muss erfahren, wie brutal das Leben sein kann, wenn die eigene Familie von allen verachtet wird. Als der Vater totgeschlagen und die Mutter elendig gestorben ist, hat sie nur noch einen Gedanken: Sie muss Bruder und Schwester vor dem Heim retten, in dem sie einst so Furchtbares ertragen musste.
Kraftvoll, archaisch, düster – und mit einer Heldin, deren Kampf gegen das Schicksal man nie wieder vergisst.“
Auch wenn es teilweise nach etwas klingen mag, das man so oder so ähnlich vielleicht schon mal irgendwo gelesen hat, vielleicht sogar in Auszügen als Klappentextangabe auf einem von Omas Schmökern, sei gesagt:
Schmöker nein! Pageturner ja!
Eine Ahnung über das komplette Ausmaß der Geschehnisse in „Wolfsegg“ bekommt man natürlich erst, wenn man nicht nur den Schutzumschlag, sondern den kompletten Roman liest. Dahingehend also alles wie immer.
Also lesen. Lesen über das Leben der 15-jährigen Protagonistin Agnes Waldner, die mit Vater, Mutter und zwei jüngeren Geschwistern in einem Provinzkaff bei Salzburg lebt – sogar noch provinzkaffiger, da etwas abgelegen in einem Häuslerhof. Dass sie von der Dorfgemeinschaft geschnitten werden, hat insoweit sein Gutes, als dass die der Familie ohnehin nichts Gutes will.
Als wäre die schwere Krebserkrankung der Mutter nicht schlimm genug, verliert der Vater seine Anstellung als Förster, weil er, so munkelt das Dorf, geklaut habe. Während der Vater auf der Suche nach einer neuen Arbeit oft tagelang unterwegs ist, ist es immer mehr an Agnes, sich um die Mutter und die Geschwister zu kümmern. Dass Agnes, die gerade von der Schule abgegangen ist, entgegen ihrem Wunsch von der Berufsberatungskommission nicht als „Autoschrauber“ eingesetzt wird, und zwar einfach nur deswegen, ihr stattdessen aus selbigem Grund eine Lehrstelle bei der Raika, einer landwirtschaftlichen Genossenschaft, verpasst wird, scheint, gemessen an allem anderen, fast schon zu egal, es überhaupt zu erwähnen. Ist es aber nicht. Alles andere als das.
Naturgewalten und Gewaltnaturen in „ Wolfsegg“
Um die Notwendigkeit der Lehrstelle, vor allem um die des Lehrgeldes wissend, lässt sich Agnes das Mobbing der Kollegen, die sexistischen Sprüche und auch das Begrapschen gerade noch gefallen. Als dann aber Scholtysek, ihr Chef und der Mann, dem Agnes‘ Mutter einst den Laufpass gab, versucht, sie zu vergewaltigen, wehrt sie sich mit voller Kraft. Kurz darauf ist sie wegen „Diebstahls“ ihre Lehrstelle los. Kurz darauf ihren Vater, der, weil er Scholtysek unter Androhung von Waffengewalt vor der Gemeinde ein entsprechendes Geständnis abforderte, mit dem Leben bezahlen muss. Gejagt und hingerichtet von der Gemeinde. Wenig später stirbt auch die Mutter; am Krebs, am Herz, am Leben. Um ihren jüngeren Geschwistern ein Leben im Heim zu ersparen, in dem sie selbst Schlimmstes durchmachen musste, flieht Agnes mit den beiden in eine entlegene, auf keiner Karte verzeichnete, in keinem Kataster erfasste Berghütte im „Wolfsegg“ weit oberhalb des Tals. An der Stelle weder Ende, noch alles gut. Lange nicht.
Eine Kulisse, aus der andere herzerwärmende Schmonzetten stricken, dient dem aus Österreich stammenden und in Potsdam lebenden Autor Peter Keglevic als Schauplatz tiefster menschlicher Abgründe. Symbolisch hierfür das Tal, in der die Dorfgemeinschaft lebt. Sexismus, Missbrauch, Mord, Lügen, Denunziantentum, Kinderprostitution: Niemand ist dort frei von Schuld, fatalerweise aber weitestgehend frei von entsprechendem Schuldspruch.
„ Wolfsegg“: Ein Roman, wie aus der Zeit gefallen
„Wolfsegg“ zu „verzeiten“, fällt schwer. Gäbe es nicht hin und wieder Referenzen auf die Gegenwart, wie das Erwähnen mehr oder weniger aktueller Kinofilme oder einer schwedischen Modekette, eine als Schauplatz gesetzte österreichische Supermarktkette oder auch die mehrfach Erwähnung findende Leidenschaft der Protagonistin für die Musik Christina Stürmers, wäre es ein Leichtes zu glauben, der Roman spielte irgendwann in den 30er, 40er oder 50er oder gar nicht Jahren. Tatsächlich wirkt „Wolfsegg“ einfach mal komplett wie aus der Zeit gefallen. Etwas, das auch beim Lesen des Romans Gefahr zu laufen droht: Aus der Zeit fallen, sich verspäten, weil eben schnell noch das Kapitel zu Ende gelesen werden möchte. Naja. Und das danach noch angefangen. Und beendet. Und das danach vielleicht auch gleich noch. Und … ach komm … schnell noch das restliche Buch.
Peter Keglevic: „Wolfsegg“, Penguin Verlag, Hardcover, 320 Seiten, ISBN: 978-3-328-60098-5, 20 € (Beitragsbild: Credit Katharina Behling)