Die mütterliche Tyrannei
Für die Fiktionalisierung des Autobiographischen hat sich Paul Theroux viel Raum gestattet. Auf 650 Seiten breitet der bekannte amerikanische Reiseschriftsteller und Romancier seine Familien-Suada aus. Mutterland ist eine bitterböse, aber humorvolle Auseinandersetzung mit der Matriarchin der Familie und ihren untergebenen Kindern. Seinem Erzähler Jay gibt Paul Theroux die eigenen biografischen Eckdaten mit auf den Weg, sowie eine Familie, mit der seine Hauptfigur eine schwere Last zu schultern hat.
Weil der Vater todkrank im Krankenhaus liegt, hat die Mutter ihre Kinder zusammengetrommelt, Jay und seine sechs Geschwister, die in diesem Roman ständig wie nie der Pubertät entkommene Kleingeister um die Gunst ihrer Mum buhlen. Die Herrscherin von „Mutterland“ hält alle Fäden in der Hand, ist eine boshafte Intrigantin, die ihre Kinder geschickt, subtil und häufig offensichtlich gegeneinander ausspielt. Für die Zeit der Beerdigung seines Vaters quartiert sich Jay wieder im heimatlichen Cape Cod ein, nicht ahnend, dass sich dieser Aufenthalt bis auf wenige Unterbrechungen über 20 Jahre lang hinziehen wird.
Er entwickelt eine Art Hassliebe zu Mutter, die nicht nur eine perfide Tyrannin ist, die wie eine Monarchin auf einem Thron in ihrer Wohnung residiert und von Jay in eine Reihe mit Diktatoren wie Stalin, Mao und Pol Pot gestellt wird, nein, sie ist auch noch zäh und wird über 100 Jahre alt. Und das bei bester Gesundheit. Während ihre Kinder alle an irgendwelchen Gebrechen leiden, rühmt sich Mutter auch im hohen Alter damit, nie Medikamente zu nehmen. Eine Überlegenheits- und Machtdemonstration in „Mutterland“, wie sie typischer nicht sein könnte. Als ständigen Trumpf ihren Kindern gegenüber spielt Jays Mutter noch die bei ihrer Geburt verstorbene Tochter Angela aus, die ihr als imaginärer Trost dient und mit der die anderen schlicht nicht konkurrieren können.
Aufgrund eines sehr persönlichen Verrisses eines seiner Bücher verkracht sich Jay mit seinem Bruder Floyd, bekannt als großer Spötter und als Lyriker und Uni-Dozent immerhin das einzig weitere, künstlerisch veranlagte Familienmitglied, und erst Jahre später, ausgerechnet auf einer der unerträglichen Familienfeiern, finden die beiden wieder zusammen und verbrüdern sich gegen den Rest, gegen die übergewichtigen Schwestern Rose und Franny (beide Lehrerinnen), gegen den langweiligen Anwalt Fred, gegen den grüblerischen Krankenpfleger Hubby und den permanent auf Reisen befindlichen Diplomaten Gilbert, nachdem sie eine krasse finanzielle Benachteiligung in „Mutterland“ bemerken. Außerdem taucht noch Jays Sohn Charlie auf, den er mit seiner damaligen Freundin kurz nach der Geburt zur Adoption freigegeben hatte, damals, als Jay mit 18 Jahren die Flucht nach Puerto Rico wagte, das „beste und schlimmste Jahr“ seines Lebens.
Mit all den erlebten Demütigungen und Verletzungen zieht sich Jay zwar immer wieder in larmoyante Gefilde zurück, allerdings bringt man vollstes Verständnis für sein Selbstmitleid auf. Teilweise treibt Paul Theroux das niederträchtige Gebaren einiger seiner Protagonisten bis hin zur exzessiven Groteske. Darüber hinaus bedient sich der 1941 in Medford, Massachusetts, geborene Autor des Mittels der Wiederholung und erzählt Variationen seines Themas, eingebettet in eine pralle und komplexe Familienchronik. „Mutterland“ ist ein irrsinnig witziger, berührender, trotz seiner zahlreichen abrechnenden Passagen höchst empathischer sowie wortgewaltiger, überbordender und emphatischer, vom gegenseitigen Sehnen nach Liebe und Anerkennung geprägter Roman.
Paul Theroux: „Mutterland“, Hoffmann und Campe, aus dem amerikanischen Englisch von Theda Krohm-Linke, Hardcover, 656 Seiten, 978-3-455-00290-4, 28 € (Beitragsbild: Buchcover).