Der Literaturnobelpreisträger als stilistischer Leisetreter
von Gérard Otremba
Wer noch nichts von Patrick Modiano gelesen hat und seinen neuen Roman Gräser der Nacht zur Hand nimmt, wird sich in dessen Sprachstil verlieben. Der 69-jährige französische Autor, vor wenigen Wochen mit dem Literaturnobelpreis geadelt, überzeugt durch eine unaufgeregte, ja sanfte Poesie, ein stilistischer Leisetreter auf der Suche nach der Erinnerung. Diese jedoch verschwimmt zwischen Traum und Realität, wird klarer beim Flanieren durch Pariser Stadtbezirke und dem Lesen von alten Notizbüchern und polizeilichen Ermittlungsakten. Denn nichts anderes bleibt dem Ich-Erzähler Jean übrig, um dem Geheimnis von Dannie, seiner kurzzeitigen Liebe aus den 60er-Jahren auf die Spur zu kommen. Modiano entführt uns in das einerseits unbeschwerte und andererseits auch mysteriöse Paris der Mitt-60er. Der 20-jährige, angehende Literat Jean lernt die etwa gleichaltrige Dannie kennen, die sich mit dubiosen und zwielichtigen Typen, der „Montparnasse-Bande“, trifft, nicht zu viel von ihrer Identität preisgibt und scheinbar in „eine üble Geschichte verstrickt“ ist. Der beiden Liaison dauert nur ganze drei Monate, bevor Jean Dannies Abschiedsbrief vorfindet, die plötzlich auf Nimmerwiedersehen verschwindet.
Jean muss sich wenige Wochen später einem Verhör von Inspektor Langlais unterziehen, der ihm Jahre später die Polizei-Akte zukommen lässt, wurde doch Dannie, die mit gefälschten Pässen durchs Leben huschte, der Beteiligung an der Entführung und des Mordes eines marokkanischen Politikers verdächtigt. Hier webt Modiano die 1965 stattgefundene Ermordung des marokkanischen Exil-Politikers Ben Barka in Gräser der Nacht ein, doch bleibt der Kriminalfall ein Randaspekt des Romans, vielmehr interessieren Patrick Modiano moral-philosophische Fragen, die sich Jean stellt: „Haben wir das Recht, über die zu urteilen, die wir lieben? Wenn wir sie lieben, dann hat das wohl irgendeinen Grund, und dieser Grund verbietet uns, über sie zu urteilen. Oder?“ Modianos Erinnerungen umweht manchmal ein Hauch von Melancholie, häufig läßt Modiano den Leser in einer nebulösen Schwebe zurück, die Handlungsstränge nie wirklich geklärt, Licht und Schatten oszillieren Träumen und Erinnerungen gemäß. Gräser der Nacht ist ein kleiner literarischer Schatz und scheint der Beginn einer wahrscheinlich großen Liebesbeziehung zu Patrick Modianos Literatur zu sein.
Patrick Modiano: Gräser der Nacht, Hanser Verlag, Hardcover, 978-3-446-24721-5, 18,90 €.
Ich werde heute Aben mit „Gräser der Nacht“ starten – du machst mich ja sowas von neugierig. Hört sich an, wie eine Fortsetzung von „Die kleine Bijou“ – da verschwindet ebenfalls ungeklärt eine Frau für immer nach Marokko. Schöne Besprechung!
Vielen Dank! Ich wünsche Dir viel Spaß mit der Lektüre, ich war wirklich sehr positiv überrascht und angetan von „Gräser der Nacht“. Liebe Grüße, Gérard
Eine ausgesprochen zum Lesen anregende, Besprechung. Von Modiano habe ich vor Jahren mal Eine Jugend gelesen, und an die Lektüre kann ich mich nicht mehr wirklich erinnern. Vermutlich war mir der leise Ton Modianos damals einfach zu langweilig. Das wäre heute sicher anders, man reift ja mit dem Alter. Man fragt sich aber auch, wann man diese ganzen interessanten Bücher wohl lesen soll. Der Modiano ist jedenfalls jetzt auf meiner Liste.
Liebe Grüsse, Kai
Hallo Kai, vielen Dank! Ja, die Zeit ist kanpp. Ich besitze auch schon viel zu viele ungelesene, aber interessante Bücher. Aber das ist auch schön so. Anders kann ich mir das gar nicht vorstellen. Liebe Grüße, Gérard
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