Olga Tokarczuk schreibt die natur(un)heilkundliche Schauergeschichte „Empusion“ mit einem feministisch-ökologischen Blick
„Empusion“ heißt der neue Roman der Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk, zu dem vor allem eins gesagt werden muss: Endlich! Endlich hat eine Frau dieses Buch geschrieben. Wir (alle) brauchen eine solche Geschichte sehr dringend. Die natur(un)heilkundliche Schauergeschichte, wie der Untertitel heißt, ist ein kluger, humoristischer, manchmal zart-liebevoller, aber auch brutal-brachialer Tritt in den Allerwertesten des Patriarchats. Wie weit verbreitet misogynes Denken und Schreiben war und ist, zeigt die polnische Autorin am Ende des Romans mit dem Hinweis auf einige Schriftsteller der letzten Jahrhunderte. Textpassagen dieser Männer wurden in den Roman integriert, fast unauffällig, und lesen sich zwar ganz fließend, aber auch unglaublich abstoßend.
Beobachtender „feministisch-ökologischer“ Blick
Doch von vorne. Die Protagonist*innen werden klassisch, ähnlich einem Theaterstück, eingeführt und dieser Blick auf die Bühne der Geschichte wird durch die gesamte Erzählung beibehalten, rahmt sie gewissermaßen. Tokarczuk gelingt es, atmosphärisch dicht und fühlbar die Welt des Sanatoriums in Niederschlesien im Jahr 1913 auferstehen zu lassen. Ihr schriftstellerisches Talent entfaltet sich bereits auf den ersten Seiten, in denen vom Kleinen ins Große gezoomt und so die Hauptfigur vorgestellt und beobachtet wird. Doch nicht nur die Leser*innen beobachten diesen jungen Mieczysław Wojnicz. Immer wenn sich der Erzählblick scharf stellt, und das wunderliche Geschehen der Menschen und seine hier meist männlichen Protagonisten betrachtet, wechselt die Erzählzeit ins Präsenz.
Wir Lesenden bilden dann eine Einheit mit den beobachtenden Blicken rund um den Kurheilort Görbersdorf. Das geschieht ganz fließend und harmonisch und ist unglaublich effektvoll. Denn “die Menschen sollten sich daran gewöhnen, dass sie beobachtet werden”. Alles ist geordnet und vermeintlich “in Ordnung” im Tagesablauf der Heilanstalt. Die Patient*innen essen, ruhen, gehen spazieren oder begeben sich zu diversen Brause- und Kneipp-Kuren. Aus allen europäischen Ländern kommen Jung und Alt, Reich und Arm nach Niederschlesien, um die Schwindsucht zu kurieren. Genau recherchiert antwortet die Autorin auf den bekanntesten aller Heilanstaltsromane – dem Zauberberg. Görbersdorf war der erste Kurort speziell für Tuberkulose-Patient*innen, an dessen Verfahren sich Thomas Mann wiederum mit seinem Roman von 1924 orientierte. Tokarczuk kehrt nun gewissermaßen an den Anfang zurück.
Bei Olga Tokarczuk existieren Frauen scheinbar als konturlose Wesen
An einen Anfang, an dem die Frauen fehlen. Schon bei dem jungen Mieczysław gibt es kaum weibliche Familienmitglieder. So “… lebten die Frauen in verschwommenen Umrissen und nur für kurze Zeit, dann starben sie und schrieben sich als konturlose flüchtige Wesen kaum ins Gedächtnis ein” und “etwas stimmte nicht mit diesen Müttern”. Es gibt im ganzen Roman drei weibliche Statistinnen und die Ehefrau des Gasthausbesitzers, die sich jedoch gleich am ersten Tag der Geschichte das Leben nimmt. Wie brutal, und geradezu lächerlich in ihrer Selbstherrlichkeit und vorgetäuschten Selbstsicherheit die meisten männlichen Protagonisten sind, erfährt die Leser*in über weite Strecken des Romans (und liest dabei ebene jene paraphrasierte Texte bekannter Schriftsteller und Philosophen).
Es wird viel gesprochen, vor allem, um sich selbst zuzuhören. Selten geht es um den echten Austausch in Sachen Nation, Kultur, Chaos und Ordnung, Religion und Politik. Fast nie sind sich die Männer einig, außer wenn es um Frauen geht. Obwohl hier gewisse Typen des modernen, westlichen Mannes dargestellt werden, wirken die Figuren nicht platt. Auch spielt die Autorin kein Schema „böse Männlichkeit“ gegen „gute Weiblichkeit“ aus. Vielmehr dominiert durchweg der beobachtende Blick, der bisweilen zärtlich wird, wenn es um die schwindsüchtigen Protagonist*innen Mieczysław Wojnicz und Thilo von Hahn geht.
Möglich und genau richtig
Denn der junge Hauptprotagonist aus dem österreichischen Lemberg (heute das ukrainische Lviv) passt eigentlich nicht in die selbstherrliche Runde mit all den Zweifeln und Unsicherheiten, die ihn plagen. Fremd sind ihm die sexuellen Anspielungen der älteren Patienten. Langsam und behutsam enthüllt die Autorin die Geschichte um den Studenten und verwebt das Sein dieses jungen Menschen so klug mit der Rahmenhandlung, den beobachtenden Mächten, dass die Leser*in am Ende der Erzählung sich wundert, warum sie es nicht früher entschlüsselt hat. Es ist ein hoffnungsvolles und ernüchterndes Ende. Ernüchternd mit dem Blick auf die blutige erste Hälfte des 20. Jahrhunderts, die in der Erzählung noch als Zukunft bevor steht und hoffnungsvoll, weil eine solche Geschichte heute möglich und genau richtig ist.
Olga Tokarczuk: Empusion. Eine natur(un)heilkundliche Schauergeschichte. Kampa, Hardcover, 384 Seiten, 978-3-311-10044-7, 26 Euro. (Beitragsbild: Łukasz Giza)