Beim Lesen von Neil Youngs jüngst erschienener Autobiographie „Ein Hippie-Traum“ konnte einem ja angst und bange werden. Da hört er mit 65 Jahren mit dem Kiffen auf und schon wollen ihm partout keine neuen Songs mehr einfallen. Hätte es im Frühjahr nicht bereits „Americana“ gegeben, sein mit Crazy Horse aufgenommenes Traditional-Songbook-Album sowie die Ankündigung zur neuen Platte „Psychedelic Pill“, man hätte Neil Young alle Musen der Welt geschickt, um ein neues gutes Album hören zu können. Nun, die Muse küßte ihn dann doch, und zwar gewaltig.
Neil Young beginnt das Album mit dem 27-minütigen „Driftin‘ Back“
Für seine acht neuen Songs benötigt Neil Young gleich mal eine Doppel-CD. Es ist ein Album wie es einfach nur mit seiner langjährigen Begleitband Crazy Horse funktioniert. Und ein großes dazu. So beginnt Neil Young seinen von den verrückten Pferden begleitenden Ritt mit „Driftin‘ Back“, einem 27(!!!)-minütigen Epos durch Raum und Zeit, durch Vergangenheit und Gegenwart. Keiner kann so ellenlange Gitarrensoli spielen wie Neil Young, ohne dass man vor Langeweile einschläft. Schließlich beherrscht Young die Kunst, mit seiner Gitarre Bilderstürme in den Köpfen seiner Hörer zu erzeugen (man denke nur an „Cortez, The Killer“), ganz ohne den Konsum bewußtseinserweiternder Mittel. Obwohl ein schöner Joint beim Hören von „Driftin‘ Back“ auch nicht schaden kann. Die Horse, also Schlagzeuger Ralph Molina, Bassist Billy Talbot und Gitarrist Frank „Poncho“ Sampedro, geben hier die gelassenen Stoiker, die diesen Ausritt nur gelegentlich zum Galoppieren bringen. Ein Monolith von einem Song, noch länger und noch dringlicher als „Change Your Mind“ von „Sleeps With Angels“ und der Titel hatte es schon in sich.
„Walk Like A Giant“ als Krönung des neuen Albums „Psychedelic Pill“
Die Krönung des Albums jedoch erklingt zum Schluß. „Walk Like A Giant“ ist „Like A Hurricane“ und „Down By The River“ für das Jahr 2012. Ein irres Feuerwerk an Gitarrengewittern, ein lustiges Gepfeife, ein euphorischer Chorus, Neil Young und Crazy Horse rocken wieder um die Wette und das alles ausgebreitet auf über 16 Minuten. Und Youngs Gitarrenspiel fulminant, präzise, ausufernd, schneidend, durchdringend und ekstatisch. Ein Monster-Song über das Festhalten an Ideale, eine Hymne wie einst „Hey, Hey, My, My“ oder „Rockin‘ In The Free World“, nur wesentlich länger. Man kann sich gar nicht satthören an „Walk Like A Giant“. Ein weiteres 15-Minuten-Epos heißt „Ramada Inn“. Schwermütiger, aber nicht minder intensiv als bei „Walk Like A Giant“, läßt Young seine Gitarre kreisen, Sampedro, Talbot und Molina verschleppen in ihrer typisch lässigen Art das Tempo und das nächste Schlachtross von einem, über die Höhen und Tiefen einer langjährigen Beziehung erzählende, Song ist geboren. Bei diesen drei monumentalen Stücken geraten die anderen fünf Songs fast ein wenig in den Hintergrund.
Die schönste Platte von Neil Young und Crazy Horse seit Jahren
Doch auch hier lohnt sich das das Zuhören. Der Titeltrack „Psychedelic Pill“ donnert, befeuert von den Klöppel-Drums Molinas, mächtig voran, der Sound vom Winde verweht, wie bei einem zügigen großen Open-Air-Festival (die reine Version gibt es zum Schluss als Bonus Track). „Born In Ontario“ schunkelt sich in seiner Country-Rock-Gemütlichkeit fast schon in den Soundtrack von „O Brother, Where Art Thou?“. Eine wunderhübsche Reminiszenz an Bob Dylans Song “Like A Rolling Stone” gelingt Neil Young in „Twisted Road“, einem coolen Country-Rock-Shuffle“. Verträumt und barmend schleicht sich der Folk von „For The Love Of Man” an und „She’s Always Dancing“ katapultiert sich immerhin auf noch beachtliche acht Minuten Lauflänge, die Gitarrenmelodien wieder elegisch und episch ausufernd, mal dunkel, mal strahlend. Ein Gedicht. „Psychedelic Pill“ ist ein grandioser musikalischer Höhenflug, das schönste Album von Neil Young und Crazy Horse seit langer Zeit.
„Psychedelic Pill“ von Neil Young ist am 26.10.2012 bei Reprise Records / Warner Music Group erschienen.