Natascha Maier: Erinnerungen auf der Zunge

Natascha Maier credit Selina Hirscher

Natascha Maier entwirft Sprachbilder als Fragmente der Erinnerung

Erinnerungen sind kreative Gebilde. Wir kreieren, formen sie wie Skulpturen. Sie bleiben nicht gleich, sind nie abgeschlossen, sie verändern sich mit uns. Erinnerungen sind Fragmente und so ist die Form, die Natascha Maier für ihr Debüt gefunden hat folgerichtig. In kurzen, oftmals in sich abgeschlossenen Sprachbildern, die wie Szenen im Raum stehen, geht die Autorin ihren eigenen und den überlieferten Erinnerungen der Familie nach. Die Form der Autofiktion ist spätestens mit Nobelpreisträgerin Annie Ernaux und Buchpreisträger*in Kim de l’Horizon probates Werkzeug dem Eigenen nachzuspüren, der Identität auf den Grund zu gehen und zu benennen: Was macht uns aus? Wer sind wir? Und warum sind wir so?

Natascha Maier und die Metapher des Flusses

Nicht nur die eigenen Erinnerungen formen uns. Auch die Erinnerungen der Eltern und Großeltern und die der Ahn*innen vor uns geben so ihren Anteil weiter. Natascha Maier findet dafür die Metapher des Flusses, dessen Wasser aus allen Generationen besteht. “Der Fluss in dir ist meine Heimat, denn geografisch kann ich Heimat nicht verorten,” heißt es. Die Ich-Erzählerin richtet sich in ihren Sprachbildern an die Urgroßmutter Maria. “Wo warst du am 29.11.1989, Maria?” Der Tag, an dem sie als Kind mit der Familie Kirgistan verließ und nach Deutschland übersiedelte. Der Tag, an dem sie heimatlos wurde und sich das Familientrauma auch in ihr fortsetzte.

Maier beschreibt das mit dem biblischen Bild der “Heuschreckenplage, die über mein Leben geflogen (war) und einen dürren Stengel hinterlassen (hat)”. Dabei ist nicht die Erfahrung des Weggehens traumatisch, sondern die des Nie-Ankommens. Diese Heimatlosigkeit und Rastlosigkeit zieht sich seit Generationen durch ihre Familie. Es ist auch das stärkste verbindende Element zu der Urgroßmutter Maria: “Wir waren unser Leben lang Fremde irgendwo, heimatlos, rastlos. Für die Kirgisen waren wir Faschisten, die ihnen ihr Land wegnehmen wollten, in Deutschland bleiben wir für immer die Russen.” 

Blick nach innen zu den Erinnerungen auf der Zunge

Die Frage nach der Heimat, nicht nur wo, sondern was das ist oder sein kann, ist die Kernfrage des schmalen Bandes. Damit knüpft Maier an die Suche einer ganzen Generation an, die sich nicht mehr nur stillschweigend integrieren will (was oftmals dem Assimilieren gleichkommt). Sie zeigt auf sehr stille und berührende Weise, was es bedeutet in der deutschen Gesellschaft Fuß zu fassen. Eine Gesellschaft, die rassistisch und hierarchisch geprägt ist und unter Willkommenskultur versteht, möglichst viele Sprachkurse anzubieten, damit die Ankommenden schnell zum Bruttosozialprodukt des Landes beitragen können. Ansprüche aber sollten sie möglichst keine stellen. “In dem Moment, in dem mich alle wegschoben, warst du immer noch da, unsichtbar in mir,” erfährt Maria und so findet die Ich-Erzählerin bei den Ahninnen Halt, den ihr das Außen nicht gibt.

Der Verlag

Der kleine Hannoveraner Verlag re:sonar wird von Jehona Kicaj und Carl Philipp Roth unabhängig und spontan geführt, wie es auf ihrer Webseite heißt und orientiert sich an jüngeren Autor*innen mit Blick in das Innerste wie die Suche nach Heimat, was das eigene Begehren bedeutet, was Identität ist. Die Veröffentlichungen sind häufig schmale Bändchen. Mit der Neuerscheinung “Erinnerungen auf der Zunge” bespielt der Verlag genau jenes Hoch der Autofiktion, das momentan gelesen wird und gelesen werden sollte. Es gibt eine Bühne für jene, die lange weggeschoben wurden und draußen bleiben mussten. 

Natascha Maier: „Erinnerungen auf der Zunge – Fragmente“. Re:sonar Verlag, Broschur mit Fadenheftung 56 Seiten, 978-3-949048-32-6, 10 Euro (Beitragsbild: Selina Hirscher)

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