Moritz Hildt: Meine Top-Ten-Alben

Moritz Hildt von Jan Münster

Der Schriftsteller Moritz Hildt stellt seine zehn Lieblingsalben vor

Nach Daniel-Pascal Zorn und Elisabeth R. Hager, stellt nun Moritz Hildt seine Top-Ten-Alben bei Sounds & Books vor. Moritz Hildt, geboren 1985 in Schorndorf, ist freier Schriftsteller und promovierter Philosoph. Nach mehreren längeren Aufenthalten in New Orleans und dem US-amerikanischen Süden lebt, schreibt und arbeitet er gegenwärtig in Tübingen. Sein literarisches Debüt, der Roman Nach der Parade, ist im März 2019 im Berliner Verlag duotincta erschienen. Für die Arbeit an seinem zweiten Roman erhielt er 2018 ein Arbeitsstipendium des Förderkreises deutscher Schriftsteller in Baden-Württemberg. Mit New Orleans, der Stadt, in der auch Nach der Parade spielt, verbindet ihn eine nicht enden wollende Leidenschaft. Hier stellt er seine zehn liebsten Platten aus dieser Stadt vor. Mehr zum Autor gibt’s auf www.moritzhildt.de. Viel Vergnügen mit den Top-Ten-Alben von Moritz Hildt (Beitragsbild: Moritz Hildt von Jan Münster).

Chris Smither: Still on the Levee (2014)

Sumpfig-schwüler akustischer Gitarrensound, zurückgenommene Arrangement und eine Stimme, die klingt, als hätte der Sänger schon vor geraumer Zeit beschlossen, dass der drückend heiße Nachmittag zu nichts anderem mehr taugt als dazu, einen Mint Julep-Cocktail nach dem anderen auf der schattigen Vorderveranda zu trinken… Die Songs auf diesem Doppelalbum, das der Geschichtenerzähler Chris Smither in New Orleans aufgenommen hat, handeln allesamt von den kleinen Dingen des Lebens, in denen, das wissen wir alle, das eigentlich Große steckt. Sie sind der perfekte Soundtrack für einen ausgedehnten Roadtrip durch die Bayous im tiefen Süden Louisianas, wo der laue Abendwind, der vom Golf herkommt, das dichte Spanische Moos in den Kronen der alten Eichen am Straßenrand eigenwillige Pirouetten drehen lässt (oder, falls die Bayous zu weit weg sein sollten, auch für jede andere Strecke, die man an einem sonnigen Spätnachmittag fahren kann, ohne an irgend ein Ziel gelangen zu müssen).

Hot 8 Brass Band: The Life & Times of… (2012)

An einem Sonntagnachmittag in New Orleans zufällig auf eine Second Line zu stoßen – eine vierstündige Straßenparade mit Brassbands, Tänzern und vielen, vielen Mitläufern und Mittanzenden –, gehört wohl zu dem Schönsten, was einem in dieser Stadt passieren kann. Auf dem Album The Life & Times of… vereint eine der gefragtesten Brassbands der Stadt die raue, unbehauene Energie dieser Musik mit ernsten, zum Teil auch melancholischen Themen und zeigt damit, wie die Aufarbeitung schlimmen Unglücks, des verheerenden Hurrikans Katrina, nicht bei lähmender Betroffenheit stehenbleiben muss, sondern selbst wieder in Ausgelassenheit und sogar überwältigende Daseinslust münden kann.

Cover und Booklet dieses Albums sind übrigens auch für Kunstfreunde interessant: darin sind Fotografien der Arbeiten versammelt, die der Straßenkünstler Banksy unmittelbar nach dem Hurrikan in New Orleans anfertigte, und von denen viele inzwischen schon wieder verschwunden sind.

Dr. John: Locked Down (2012)

Dass Dr. John einer der bekanntesten Musiker aus New Orleans ist, ist wohl keine große Neuigkeit. Weniger bekannt dürfte sein, dass er ein geweihter Voodoo-Priester ist. Insofern trägt er seinen Titel völlig zurecht: männliche Priester der in New Orleans nach wie vor sehr lebendigen Naturreligion heißen „Doctor“, weibliche „Queen“.

Mit diesem von Dan Auerbach (The Black Keys) produzierten Album hat Dr. John nicht nur neuen Schwung gefunden, sondern auch ein wahres Gumbo seiner Musikstile vorgelegt; einen Eintopf aus nüchternem Rock, sumpfigem Funk, Soul und vielem anderen, was sonst noch darin schwimmt – und natürlich findet sich unter den Songs auch ein musikalisches Voodoo-Gebet, der Track eleggua, mit dem der Doctor „Legba“ huldigt, dem Hüter des Tores zur Götterwelt.

Zachary Richard: Gombo (2017)

À propos Gumbo: Dieser kreolische Eintopf zeichnet sich übrigens dadurch aus, dass all seine Bestandteile zwar durch eine kräftige Mehlschwitze, roux genannt, miteinander verbunden werden, ihren Eigengeschmack aber beibehalten. Das gibt ein ziemlich passendes Bild für die Kultur der Stadt ab, und auch für das aktuelle Album von Zachary Richard: tief verwurzelt in der musikalischen Tradition der westlich von New Orleans lebenden Cajuns, fügen sich die Songs, zwischen Melancholie und abendlicher Tanzmusik, zu einem sehr eindrucksvollen Bild von dem Reichtum dieser sehr eigenen und sehr lebendigen Kultur zusammen. (Über die Hälfte der Lieder singt Richard übrigens in Cajun-Französisch, das man heute noch hören kann, wenn man in dieser Gegend unterwegs ist.)

Christian Scott: Christian aTunde Adjuah (2012)

Christian Scott, Jahrgang 1983, ist wohl einer der interessantesten jungen zeitgenössischen Jazz-Künstler, die aus New Orleans stammen. Mit seinen hellen, selbstbewussten Trompetenklängen und einer Band, die sich klanglich so dicht um die führende Trompete schmiegt, dass man unweigerlich (und vermutlich nicht unbeabsichtigt) an Aufnahmen der Miles Davis-Band aus den 80er Jahren zurückdenkt, eröffnen die Alben von Scott eine ganz eigene instrumentale Welt, mal wehmütig, mal augenzwinkernd, mal nachdenklich, mal aggressiv.

Auf der eindrucksvollen Cover-Fotografie dieses Albums ist der Musiker in seiner Spy Boy-Montur zu sehen: Scott ist Mitglied der Congo Nation, einer Mardi Gras Indian-Gang in New Orleans, die, wie viele andere dieser „Gangs“, an Mardi Gras, also Faschingsdienstag, schon am frühen Morgen in prächtigen und farbenfrohen Kostümen durch die Straßen der Stadt ziehen. (Der Big Chief, also Häuptling der Congo Nation, ist übrigens ebenfalls ein bedeutender Jazz-Musiker: Scotts Onkel Donald Harrison, Jr.)

Bob Dylan: Oh Mercy (1989)

In seinen Memoiren erzählt Dylan eindrücklich und mit einer unbändigen Fülle genauer Beobachtungen von seinen langen Motorradtouren durch die Sümpfe um New Orleans herum, in den Aufnahmepausen zu diesem Album, das von Daniel Lanois in einem leerstehenden Haus im Uptown-Viertel von New Orleans aufgenommen wurde. Die Themen, von denen die Songs auf Oh Mercy handeln, können vielleicht am besten beschrieben werden als das, was einem einfällt, wenn man nachts um drei plötzlich aus dem Schlaf hochschreckt, nicht mehr einschlafen kann und aus dem Fenster in die Nacht hinausschaut.

Die Platte ist für mich eine Perle in Dylans Werk – der, nebenbei bemerkt, noch immer ein Haus in New Orleans besitzt, unweit des Audubon Parks, und ein bekennender Fan der Stadt ist. In seinen Chronicles finden sich wunderbar atmosphärische Beschreibungen der Stadt, die in dem – schwer anfechtbaren – Urteil münden: „There are a lot of places I like, but I like New Orleans better.“

John Boutté: Jambalaya (2003)

Von der, wie Satchmo sang, „dark, sacred night“ mitten hinein in den „bright, blessed day“, einen jener schon wunderbar warmen Frühlingstage im Februar, an dem plötzlich überall in der Stadt die Azaleen zu blühen beginnen: So ist die Musik auf John Bouttés Jambalaya – eine fröhliche, emphatische und ausgelassene Feier, getragen von einer vergnügten Band und der sanften, dabei aber ausdrucksstarken Stimme des Sängers. Boutté stammt aus einer der großen Musikerdynastien der Stadt und einer seiner Gigs ist nicht nur wegen seiner Stimme, sondern auch wegen seiner Persönlichkeit etwas, von dem man kaum genug kriegen kann.

Alejandro Escovedo: Burn Something Beautiful (2016)

Auch wenn Alejandro Escovedo einiges mit New Orleans verbindet, ist sein Sound doch sehr viel stärker von der trockenen, flirrend-heißen Sandwüste irgendwo zwischen West-Texas und New Mexico geprägt: erdiger, unbehauener und ehrlicher what-you-see-is-what-you-get Rock’n’Roll, dessen erste Akkorde wie von selbst die Musikanlage im Auto lauter werden lassen. Mit dem titelgebenden Motto dieses Albums rumpelt die Band mit einer ansteckenden Spielfreude durch einen ganz eigenen, treibenden Mix aus Rock, Alt-Country, Grunge und Americana und passt damit aus mindestens zwei Gründen wunderbar in eine der zahllosen kleinen, niedrigen Musikkneipen in New Orleans: wegen der rauen Lebenslust, die jeder dieser Songs versprüht, und wegen der schulterzuckenden Weigerung, sich auf einen klar bestimmbaren Musikstil festzulegen –„Das einzige, worum es geht, ist, gute Musik zu spielen“; diesen Satz bekommt man gern von Musikern aus New Orleans zu hören, wenn man sie fragt, welches Genre die Stadt am ehesten auszeichne.

Allen Toussaint: Songbook (2013)

Allen Toussaint war einer der bedeutendsten Plattenproduzenten der Stadt, aktiv seit den Sechzigern, als Produzent und Musiker. Dieses Album, das sein letztes noch zu Lebzeiten veröffentlichtes werden sollte, versammelt Aufnahmen von zwei Solo-Konzerten, die Toussaint 2009 in einer kleinen New Yorker Jazzkneipe gegeben hat. Seine charakteristisch sanfte, milde und augenzwinkernde Stimme, sein Witz und sein vergnügtes, immer vorwärtstreibendes Klavierspiel gehört für mich zu dem uneingeschränkt Schönsten, was die New Orleans-Musikszene des 20. Jahrhunderts hervorgebracht hat. Das Lied, mit dem er sein Konzert beschließt, eine lange Version von Southern Nights, die er verwebt mit einer sprühend-lebendigen Erzählung aus seiner Kindheit, ist ein sagenhaftes Beispiel dafür, wie Literatur und Musik ineinandergehen können.

Trombone Shorty: Backatown (2010)

Der junge Troy Andrews, Jahrgang ’86, begann mit dem Musikmachen, als er in etwa so so groß war wie seine Zugposaune – daher sein Spitzname, den er jetzt als Künstlernamen trägt. Zusammen mit seiner Band Orleans Avenue tourt er seit dem bahnbrechenden Erfolg seines ersten – und besten – Albums Backatown fast im Jahrestakt auch durch Europa, und jeder, der die Chance hat, ihn zu Gesicht und auf die Ohren zu kriegen, verpasst etwas, wenn er die Gelegenheit verstreichen lässt. Trombone Shorty and Orleans Avenue zeigen nicht nur, dass Jazz und Rock einander nicht ausschließen, sondern dass auch noch Funk, Punkrock und Soul mit ins Boot genommen werden können, ohne den eigenen Sound damit auch nur in Gefahr zu bringen.

Wenn es etwas gibt, das alle Songs von Trombone Shorty zusammenhält, dann ist es wohl das: eine pure Lebensfreude und Daseinslust, die wie nichts anderes Wurzel, Stamm und Blüte aller Musik ist, die jemals aus New Orleans kam, kommt, und hoffentlich noch lange, lange kommen wird.


Herzlichen Dank an Moritz Hildt für die Vorstellung seiner Top-Ten-Alben bei Sounds & Books.

Kommentar schreiben