Milky Chance live in Offenbach 2022

Milky Chance live Offenbach Stadthalle by Ben Kaufmann Sounds & Books

Milky Chance lässt es beim fast ausverkauften Tour-Abschluss in der Offenbacher Stadthalle noch einmal ordentlich krachen

Klirrende Kälte. Bei Minusgraden knirschen die Autoreifen auf der dicken Eisschicht des ramponierten Besucherparkplatzes. Die etwas in die Jahre gekommene, aber gerade deswegen charmante Offenbacher Stadthalle öffnet erneut ihre Tore. In dem charakteristischen 60er-Jahre-Bau liegen noch Klänge von David Bowie und Depeche Mode in der Luft. Menschen aus nahezu allen Altersklassen, aber vermehrt Anfangzwanziger suchen an diesem Abend musikalische Zuflucht beim leidenschaftlichen Sound von Milky Chance. Bedenkt man das mittlerweile zehnjährige Bandjubiläum, so ist es erstaunlich, dass die Vier scheinbar immer wieder neue Zuhörer erreichen. Dies könnte unter anderem an ihrem unermüdlichen Einsatz für nachhaltige Projekte liegen, die sie wiederum seit Jahren auf einer eigens dafür konzipierten Homepage vorstellen. Bei der aktuellen Europa-Tour gehen 25 Cent für jedes verkaufte Ticket an ‚Wilderness International‘ zur Rettung des peruanischen Regenwalds. Wie ernst es ihnen damit ist, zeigen sie vor ihrem Auftritt anhand eines großangelegten Filmclips auf der Bühnenleinwand.

Milky Chance and the Machine

Den musikalischen Anfang macht daraufhin die kanadische Singer-Songwriterin und Tour-Supporterin Charlotte Cardin mit ihrer Band. Dass sie Radiohead und Céline Dion zu ihren Einflüssen zählt, spiegelt sich auch in ihrer eigenen diversen Musikausrichtung wider. Zwischen Pop und Elektro angesiedelte Klangwelten verschmelzen mit ihrer soullastigen Stimme und einer rotlichtdurchfluteten Bühne. Die im Anschluss von der Stage-Crew installierten langen LED-Wände lassen bereits erahnen, dass sich Milky Chance bald die Ehre gibt. Zunächst im Dunkeln betritt die vierköpfige Band um Clemens Rehbein und Philipp Dausch schließlich die Bühne. Lediglich das Audiosample eines startenden Motors ist in voller Lautstärke zu hören. Die Gedanken driften kurzzeitig ab und fragen sich, ob hier gleich schlichtweg Gas gegeben wird oder ob nicht doch Pink Floyd mit dystopischer Stimme in der Maschine willkommen heißt.

Spendierfreude vor surrealen Landschaften

Musikalisch beginnen sie unspektakulär mit eingängigen Songs wie dem aktuellen Hit “Synchronize“ und den vom etwas schwächeren zweiten Album stammenden Tracks “Ego“ und “Blossom“. Die wie so häufig farbenfrohe Lichtgestaltung der Band findet in surreal anmutenden Leinwandprojektionen ihre psychedelische Erweiterung. Mit Beginn von “The Game“ wird das Motiv der riesigen, in einer weiten Landschaft liegenden Bowlingkugel aus dem Musikvideo des Songs aufgegriffen. Immer wieder geht der sichtlich euphorische Sänger Clemens Rehbein mit den Zuschauern ins Gespräch. Zur Vorbereitung von “Cocoon“ teilt er unterschiedlichen Publikumsteilen jeweils einen der drei Vokale zu, die im Laufe des Songs benötigt werden, um daraus ein eigenes Klangmuster zu schaffen. In Spendierlaune zeigt er sich, als er den Besuchern die Wahl zwischen zwei Wunschsongs lässt, wenig später jedoch entscheidet beide zu spielen. Entgegen dem elektronisch orientierten Beginn werden “Scarlet Paintings“ und “Unknown Song“ eindrücklich in persönlich daherkommenden Akustikversionen dargeboten.

Der Milky Chance Club braucht Bass

Für “History of Yesterday“ – eine musikalische Liaison mit Charlotte Cardin für das kommende Album – holen die Wahlberliner die Kanadierin zurück auf die Bühne. Auch mit “Frequency of Love“ gibt es einen noch unveröffentlichten Track, dessen verzerrter Refrain im positiven Sinne an Bon Iver erinnert. Hinsichtlich der sphärischen Klänge, dem poetischen Sprechgesang und den jazzigen Drum-Einlagen von Sebastian Schmidt ist es auch laut Rehbein „mal ein ganz anderer Sound“, den man von der Band bislang nicht gewohnt sei. Bereits die ersten Klänge von “Down by the River“ sorgen für einen begeisterten Aufschrei, gehört der Track doch mittlerweile zur musikalischen Seele der langjährigen Anhänger. Während der Multiinstrumentalist Dausch immer wieder zwischen Gitarre, Keyboard und Drums wechselt, ruft Rehbein die Stadthalle zum besten Club in Offenbach aus. Folgerichtig zieht einem der Bass des in verwegenes Rot getauchten Soft Cell-Covers “Tainted Love“ fast die Schuhe aus.

Sit-in mit Milky Chance und ein fliegendes Tamburin

Zum Abschluss ihres Konzerts, der gleichbedeutend mit dem Ende ihrer aktuellen Europa-Tour ist, wachsen die vier Musiker nochmals über sich hinaus. Mit den immer noch beliebten Tracks “Flash Junk Mind“ und “Stolen Dance“ führen sie so manchen Fan an den Rand der Ekstase; bei letzterem übernimmt das Publikum gar anfänglich den Gesang. Den deutlichen Ruf der Zuschauer erhörend kommt Milky Chance für drei Zugaben zurück auf die Bühne. Neben dem Radio-Hit “Colorado“ gibt es hinsichtlich des groovigen “Sweet Sun“ und des hypnotischen “Running“ zwei besondere Überraschungen für die Fans der ersten Stunde. Nachdem Rehbein zwischenzeitlich alle anwesenden Menschen zum Sitzen gebracht hat, spielen sich die Vier nun in einen Gipfelrausch. Angeheizt wird dieser zuvorderst von Antonio Gregers unglaublicher Mundharmonika, die hinsichtlich Varianz und Dynamik ihresgleichen sucht. Bei tosendem Applaus wirft Clemens Rehbein schließlich im emotionalen Überschwang neben Plektren und Drumsticks auch Schmidts Tamburin in den Zuschauerraum.

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