Von Träumen, Hoffnungen und der Realität
von Gérard Otremba
Für seinen Roman Die Stunden erhielt der amerikanische Schriftsteller Michael Cunningham Ende der 90er-Jahre den renommierten Pulitzer-Preis sowie den Faulkner-Award, die gleichnamige Verfilmung brachte Nicole Kidman gar den begehrten Oscar ein. Doch bereits im Jahre 1994 erregte Cunningham mit seinem Debütroman Fünf Meilen bis Woodstock (später unter dem Titel Ein Zuhause am Ende der Welt neu veröffentlicht und ebenfalls verfilmt) in eingeweihten Literaturkreisen Aufmerksamkeit, eine lakonische und dramatische Dreiecks- und Familiengeschichte, die den Zeitraum- und Zeitgeist der End-60er- bis Früh-80er-Jahre einfängt. Micheal Cunninghams neuer Roman Die Schneekönigin umfasst zwar nur die Olympiade zwischen 2004 und 2008, zu einer Art Dreiecksbeziehung findet der 62-jährige Autor jedoch in ihm wieder zurück. In dem nicht ganz so hippen, jenseits von Brooklyn gelegenen New Yorker Stadtteil Bushwick teilen sich Beth, ihr Freund Tyler und dessen Bruder Barrett eine Wohnung. Die an Krebs erkrankte Beth, Mitbesitzerin eines schmucken Secondhand-Ladens, wird von ihrem Partner Tyler, einem 43-jährigen erfolglosen Rockmusiker, dem Kokain-Konsum nicht abgeneigt, der für die anstehende Hochzeit einen Song für Beth zu komponieren versucht, liebevoll gepflegt. Tylers fünf Jahre jüngerer schwuler Bruder Barrett (mit abgebrochenem Literaturstudium auf er Habenseite) verkauft in Beths Boutique Designerklamotten und erhält von seinem Freund per SMS den Laufpass. Ein intensives und unergründliches Licht am nächtlichen Himmel über dem Central Park bringt Barretts Gefühls- und Gedankengefüge durcheinander.
„Er konnte die Aufmerksamkeit des Lichtes als Kribbeln spüren, das ihn durchlief wie ein schwacher Stromstoß; eine sanfte, angenehme Spannung, die ihn durchdrang, ihn wärmte, ihn möglicherweise sogar ein ganz kleines bisschen zum Leuchten brachte, so dass er um ein oder zwei Nuancen heller war als zuvor; phosphoreszierend, doch auf eine rosa Weise, auf menschliche Weise, ohne jede Ähnlichkeit mit waberndem Sumpfgas, nur ein Ansammlung von schwach schimmerndem Blut-Licht dicht unter der Haut.“
Als es Beth gesundheitlich wieder besser geht, erscheint Barrett die himmlische Illumination wie eine göttliche Vorhersehung. Manchmal jedoch spielen die Götter ein anderes Spiel und vier Jahre später hat sich das Leben der drei Protagonisten grundlegend geändert. Michael Cunningham (übrigens ein Meister von in Klammern stehenden Nebensätzen) taucht tief in die Gedankenwelt seiner Figuren ein und lotet deren Emotionen in allen Abgründen aus. Seine handelnden Personen sind überaus sympathisch und tendieren leicht ins Freakige. Cunningham beschreibt die Banalität ihres Alltags, in dem aber natürlich doch (und wo sonst?) das pralle Leben pulsiert, mit all den Träumen, Hoffnungen und Unwägbarkeiten. Wozu benötigt jemand angebliche Reality-Fernsehsendungen, wenn es doch Autoren wie Michael Cunningham gibt, der in „Die Schneekönigin“ die Realität so hautnah einfängt? Manchmal driften die beiden Brüder ins Larmoyant-Grüblerische ab, verfallen jedoch nicht in unerträgliche Depressionen. So ist das Leben von Tyler und Barrett un der Leser hat das große Glück, an wenigen, von Micheal Cunningham ausgewählten Tagen in ihre Welt eintauchen zu dürfen.
Michael Cunningham: „Die Schneekönigin“, Luchterhand Verlag, Hardcover, übersetzt von Eva Bonné, 978-3-630-87458-6, 21,99 €.