Maxim Leo: Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße

Mit seiner hochvergnüglichen Medien- und Politsatire „Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße“ trifft Maxim Leo den Ost-West-deutschen Zeitgeist

Michael Hartung könnte Geld gut gebrauchen. Seine Berliner Videothek „Moviestar“, für die er seit 1997 arbeitet und nun leitet, nagt am Zahn der Zeit. Was einst als zukunftssicherer Job erschien, wird langsam von der Streaming-Welle überholt. Um Miete zu sparen, hat er den Horror- und Porno-Raum bereits liquidiert und zur Wohnstatt umfunktioniert. Eines Tages taucht bei ihm der Journalist Alexander Landmann auf. Der wiederum benötigt dringend mal eine richtig gute Titelgeschichte, schließlich kürzt sein Hamburger Magazin „Fakt“ seit geraumer Zeit Stellen.

Eine S-Bahn-Flucht von Ost- nach Westberlin

Maxim Leo Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße Cover Verlag Kiepenheuer & Witsch

In der DDR-Vergangenheit der Videothekars wittert der Reporter die große Story, schließlich habe Hartung im Sommer 1983 als unbedeutender Eisenbahner für die „Massenflucht“ von 127 Ostberliner in den Westen gesorgt, denkt Landmann nach seinen Recherchen. Dem ist allerdings nur ein Sicherungsbolzen abgebrochen, der die Überfahrt einer S-Bahn in den Westen ermöglichte. Von einer geplanten und beabsichtigten Fluchthilfe für andere Mitbürger der DDR war Hartung weit entfernt. Beim Gespräch mit Landmann dementiert Hartung indes nicht vehement genug und für das in Aussicht gestellte Honorar lässt er den Reporter gewähren. Landmann schmückt die Story aus und landet einen journalistischen Sensationscoup.

Gefühle sind im Spiel

Hartungs Geschichte als „Held von Bahnhof Friedrichsstraße“ verselbständigt sich. Die Medien reißen sich um den vermeintlich so selbstlosen Ex-Eisenbahner und mit dem Auftritt in einer Talk-Show mit Katharina Witt erlebt Hartungs Ruhm den vorläufigen Höhepunkt. Eine Biographie sowie ein Fernsehfilm sind in Planung und sogar eine Ansprache im Bundestag anlässlich des dreißigjährigen Mauerfalls soll Hartung halten. Auch das bis dato so distanzierte Verhältnis zu seiner Tochter wird inniger und als sich die Prozessanwältin Paula bei ihm meldet, die sich 1983 als 14-Jährige mit ihren Eltern in besagter S-Bahn saß, sich  plötzlich im Westteil Berlins wiederfand und dort geblieben ist, kommen auch noch amouröse Gefühle ins Spiel.

Maxim Leo lässt seine Figuren aufblühen

Maxim Leo brennt in „Der Held vom Bahnhof Friedrichsstraße“ ein Feuerwerk in Sachen Medien- und Politsatire ab. Die Idee der S-Bahn-Flucht – tatsächlich gab es eine Weiche, über die S-Bahn-Züge vom Bahnhof Friedrichstraße in den Westen fahren konnten, nachdem sie in der DDR repariert wurden, ein Fluchtversuch fand jedoch so nie statt – gehört zu den guten in der literarischen Geschichtsschreibung Deutschlands. Der 1970 in Ost-Berlin geborene Autor jongliert gekonnt mit Ost-West-Klischees und findet am Ende einen fast schon pathetisch-kitschig anmutenden Versöhnungston. Sein klug konstruierter Plot lebt von amüsanten Dialogen und lebendigen Figuren, die Maxim Leo von den Haupt- bis zu den Nebenfiguren, ob „Späti“-Besitzer Bernd oder Bürgerrechtler Wischnewsky, in optimalen Rollen aufblühen lässt. Die kurzfristig eingebaute krimiartige Handlung mag schon fast etwas zu viel des Guten sein, verhindert aber nicht das Ziel einer hochvergnüglichen Lektüre, mit der Leo treffend den deutschen Zeitgeist einfängt.

Maxim Leo: „Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße“, Kiepenheuer & Witsch, Hardcover, 304 Seiten, 978-3-462-00084-9, 22 Euro. (Beitragsbild von Sven Görlich)     

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