Max Richter als Kurator in der Elbphilharmonie

Max Richter credit Mike Terry

Der Komponist Max Richter kuratierte das Wochenendprogramm der Hamburger Elbphilharmonie vom 08.-10.10.2021

Der Komponist, Pianist und Produzent Max Richter, der mit seiner eigenen Musik sowohl Klassikliebhaber als auch Pop-Fans erreicht, durfte drei Tage lang unter dem Banner „Reflektor Max Richter & Yulia Mahr“ das Programm in der Elbphilharmonie kuratieren. Alle drei Tage war auch die Videoinstallation „Studio Diary“ von Yulia Mahr im Kaistudio bei freiem Eintritt zu bestaunen. Hier gewähren Max Richter und Julia Mahr, die auch für die visuelle Kompente seiner Musik verantwortlich ist, Einblicke in ihr Studio – eine Fortsetzung dieser dokumentarischen Arbeit ist geplant.

Der Post-Klassiker Max Richter

Wenn Künstler:innen etwas kuratieren, dann kann das spannend werden, weil sie vielleicht eine andere Sicht auf die Dinge haben als Kurator:innen, die selber keine Künstler:innen sind. Der im niedersächsischen Hameln geborene Brite Max Richter sagt: “Musik ist für mich vor allem ein Weg, Menschen anzusprechen. Es geht darum, ein Gespräch zu führen.“ Richter ist offen für viele Stile und Genres. Seine eigene Musik wird oftmals als „Neoklassik“ schubladisiert. Er bezeichnet sich selber lieber halbironisch als “Post-Klassiker“, denn er hat das klassische Komponieren hinter sich gelassen. Seine ersten besuchten Gigs waren von The Clash und Kraftwerk – er wurde also musikalisch sozialisiert mit Electronica und Punk. Für Richter spielt auch die Trennung von akustischen und elektronischen Elementen keine Rolle: „Ich sehe in der Elektronik eher eine Fortführung, eine Erweiterung der verfügbaren Klangpalette.

Max Richter und das Finnish Baroque Orchestra

Nachdem es anfangs schwierig war, in klassisch geprägten Konzerthäusern aufzutreten, kann Richter sich nun vor Anfragen kaum retten. Am Freitag präsentierte Richter seine „Recomposed“-Variante von Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ zusammen mit dem Finnish Baroque Orchestra unter der Leitung von Antti Tikkanen, der auch die erste Violine spielte. Imposant war das, denn neben dem vielzähligen Streicherensemble kamen auch Cembalo und Harfe zum Einsatz. Die Uraufführung des zugehörigen Albums „Recomposed: Vivaldi – The Four Seasons“ (2011) fand indes im Berghain statt – Richters Musik funktioniert im Club genauso gut wie in der Elbphilharmonie. Seine „Reflektor“-Reihe wurde mehrfach verschoben und die Erleichterung stand ihm ins Gesicht geschrieben, dass sie nun endlich stattfinden konnte. Das Finnish Baroque Orchestra spielte zum ersten Mal im großen Saal der Elbphilharmonie und der tosende Applaus nach der Aufführung tat den Musiker:innen sichtlich gut – da wurde die eine oder andere Freudenträne verdrückt.

Klavierklänge von Shida Shahabi

Zuvor ließ sich bereits die Vielfältigkeit des Programms goutieren: Bereits um 18 Uhr überzeugte die schwedisch-iranische Pianistin und Komponistin Shida Shahabi mit gedämpften Klavierklängen, ruhigen Melodien und melancholischen Harmoniefolgen, die eine Sogwirkung entfalteten – begleitet wurde sie am Cello von der schwedischen Komponistin Emma Augustsson. Nach einem kurzen Umbau durfte dann Daniel Brandt „Channels“ live präsentieren. Viele kennen ihn von der Formation Brandt Brauer Frick, nun hat er aber bereits sein zweites Solo-Album veröffentlicht, das er in Trio-Bestzung mit Pascal Bideau an Bass / Gitarre und Florian Juncker an der Posaune aufführt. Hier geht er der Frage nach: „Was passiert, wenn man digitale Club-Beats mit ganz klassischen, analogen Instrumenten auf die Bühne bringt?“ Der kleine Saal der Elbphilharmonie wird zum Club inklusive Lichtshow, die Musik von Brandt entwickelt live eine unheimliche Wucht. Brandt selber spielt Drums und steht an der Live-Elektronik.

Ein virtuoser Sternenhimmelzyklus der Pianistin Elisabeth Brauss

Richter wollte als Kind eigentlich Astronaut werden, vielleicht wählte er deshalb die junge Pianistin Elisabeth Brauss aus, die zur späten Stunde ziemlich virtuos den Sternenhimmelzyklus op.10 des estnischen Komponisten Urmas Sisask in der kleinen Elbphilharmonie zelebrierte. Sisask entwickelte ein eigenes Kompositionsverfahren mit einer „Planeten-Tonleiter“. Elisabeth Brauss gab alles am großen Flügel, unterstützt von einem schwarz gekleideten Herrn, der die Seiten umblätterte. Ihre glitzernde Bluse passte gut zum Thema und zur Illuminierung des Saals – unter Sternen ließ sich die Virtuosität von Brauss vollends genießen: sachte Passagen wechselten sich ab mit Stellen, an der Brauss die Tasten hart anging und auch schon mal in den Korpus des Flügels fasste, um Töne zu erzeugen. „Eine Reife und Raffinesse ihrer durchdachten Interpretationen, auf die jeder doppelt so alte Pianist stolz sein würde“ attestierte ihr schließlich auch das renommierte Grammophone Magazine.

Max Richter spielt „Infra“

Samstag Nachmittag spielte Max Richter „Infra“, was eigentlich der Soundtrack zu einer Aufführung vom Londoner Royal Ballet anläßlich der Bombenanschläge am 7. Juli 2005 in der britischen Hauptstadt war. Ein künstlerisches Credo von Richter lautet: „Musik soll weniger eine technische Übung sein als vielmehr ein Transportmittel für Inhalt. In meinem Werk geht es daher immer um etwas, denn ohne einen klaren sozialen Zweck ist Kreativarbeit nicht sonderlich zugkräftig.“ Unterstützt wurde Richter vom American Contemporary Music Ensemble unter der künstlerischen Leitung von Clarice Jensen, die selber auch Violoncello spielte. Richter selber sorgt am Piano und per Einspielung vom Computer für faszinierende Klanglandschaften.

Stücke von Julius Eastman

Dann wurde umgebaut – und: das läuft in der Elbphilharmonie als gut geölte Maschinerie ab. Unzählige Techniker:innen wuseln, verladen, bauen ab und wieder auf – hat auch was von einem Ballett irgendwie. Es kamen noch Stücke von Julius Eastman zur Aufführung, ein Afroamerikaner, Homosexueller und Freigeist, der leider mit nicht einmal 50 Jahren viel zu früh starb: er verfiel den Drogen und landete auf der Straße. Als Tondokument ist Eastman zunächst mit einer zehnminütigen Ansprache an die Gleichgesinnte Jeanne d’Arc zu hören, dann folgt das Stück „The Holy Presence of Joan d’Arc“ mit zehn Vioncellis, eine Rekonstruktion von Clarice Jensen, markdurchdringend auf den Punkt gespielt, fast als wäre es Rockmusik.

Das Highlight der „Reflektor“-Reihe

Darauf folgt aber das Highlight der „Reflektor“-Reihe: Bei „Stay On It“ von Eastman aus dem Jahre 1973 werden weit mehr Instrumente aufgefahren – u.a. ein Schlagzeug, ein Saxofon, ein Fagott, die Bassklarinette und ein Klavier. Eine rauschhafte Aufführung, die aus geregelten Formen ausbricht und mit Spoken-Word-Passagen und Einbeziehung des Publikums aufwartet. Am Ende verlassen die Musiker:innen (noch ihre Instrumente spielend) nach und nach die Bühne. Nur der Pianist Per Rundberg darf nochmal so richtig aufdrehen und malträtiert zeitweilig sein Instrument, schlägt hart die Tasten an und greift in den Flügel, um Geräusche zu erzeugen. Schier unfassbare Musikalität an der Grenze zum Wahnsinn ist bei „Stay On It“ aufs Eindrücklichste zu erleben. Am Ende rasselt der Dirigent Kevin John Edusei noch ein wenig im Publikum, dann ist es vorbei.

Ein Höhepunkt mit Videoprojektionen

Am Sonntag um 13:30 Uhr noch ein weiterer Höhepunkt: Wieder das American Contemporary Music Ensemble mit Stücken von Carloine Shaw (Entr’acte), Caleb Burhans (Contritus) und der amerikanischen Komponistin und Performerin Pamela Z (Attention). Die erstgenannten Stücke überzeugten vollends und bei „Attention“ kommen dann Videoprojektionen zum Einsatz, wobei Bild und Ton eine perfekte Symbiose eingehen: Es werden antik anmutende Telefone als Duschbrause gezeigt, aber auch das Klingeln von Telefonen und die eingehenden Nachrichten auf modernsten Smartphone-Displays gezeigt und die Tonebene als musikalisches Stilmittel eingesetzt – auf der Bühne greifen die Musiker:innen ebenso zu den modernen Kommunikationsmitteln.

Live-Elektronik mit Pamela Z

Anschließend kommt Pamela Z noch selber für ein Set mit Stimme und Live-Elektronik auf die Bühne: Dass sie klassischen Gesang studiert hat, ist nicht zu überhören, doch ihre Projekte kombinieren Stimmakrobatik, Text, digitale Prozesse und Midi-Controller, mit denen sie Klang durch Körperbewegungen verändert (ähnlich wie ein Theremin sieht das Gerät aus, dass so umwerfende Klänge erzeugt). Das war ein großes Erlebnis, dieser „Reflektor Max Richter“ – ähnlich wie beim Internationalen Sommerfestival auf Kampnagel waren hier verschiedene Kunstgattungen und Genres vertreten und mitunter vermengt. Und die amerikanische Komponistin und Producerin Jlin, die im Großen Saal der Elbphilharmonie ein Live-Elektronik-Set spielte, hat tatsächlich auf dem Sommerfestival 2021 den Soundtrack zu einer modernen Ballettproduktion beigesteuert und dafür Mozart mit elektronischen Stilmitteln umkomponiert – da schließt sich der Kreis. Bitte mehr davon!

(Beitragsbild: Max Richter by Mike Terry)

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