Sieben Jahre nach „Ich vs. Wir“ kehren Kettcar mit dem grandiosen sechsten Album „Gute Laune ungerecht verteilt“ zurück
von Gérard Otremba
Als 2017 „Ich vs. Wir“ erschienen ist, habe ich Kettcar in meiner damaligen Review auf dem vorläufigen Karrierehöhepunkt gesehen. Nun setzt die Hamburger Indie-Rock-Pop-Band mit dem sechsten Album „Gute Laune ungerecht verteilt“ nach. Sieben Jahre sind ins Land gegangen, die auf „Ich vs. Wir“ behandelten Probleme geblieben, neue sind hinzukommen. Aber Kettcar bleiben dran, auch nach einer längeren Pause. Die von uns zum Song des Tages gekürte erste Vorabsingle und Anti-Rassismus-Hymne „München“ mit Chris Tell von Fjørt als Gast rüttelte nicht nur aufgrund ihres Textes, sondern auch ob der atemlosen wie dringlichen Post-Punk-Geschwindigkeit auf. Ein im positiven Sinne ähnlich plakatives Lied, wie man sie aus dem Vorgängeralbum kennt, und immer noch nötig, um Zeichen gegen rechten Populismus zu setzen.
Kettcar-Zwischentöne
So klar die Positionierung Kettcars bleibt und auf „Gute Laune schlecht verteilt“ auch zur Geltung kommt, baut das Quintett auf der neuen Platte genügend Räume für Zwischentöne ein. Der Opener „Auch für mich 6. Stunde“, der mit den erschütternden Zeilen „Mittelmeer, Massengrab, so traurig hier, zynisch da“ beginnt, sucht in nachdenklicher Manier nach der Hoffnung im Gemeinsamen. Mithin eine ähnlich große Kettcar-Hymne wie einst „Ladungsbrücken raus“. Im munteren „Doug & Florence“ huldigt Marcus Wiebusch den Pflegerinnen und Paketzustellern dieser Welt, während er in „Rügen“ die coolen, immer funktionierenden, sehr egoistischen Wesen dieser Gesellschaft auf den Zahn fühlt. Und die Frage, inwieweit das Werk vom Künstler getrennt werden kann, beantworten Kettcar im Hip-Hop-ambitionierten „Kanye in Bayreuth“ nicht so eindeutig, wie die Antwort für manche schon feststehen mag.
Genaue Beobachter und Geschichtenerzähler
Und dass noch viel mehr als die gute Laune ungerecht verteilt ist, sieht man bei einem Blick in den Supermarkt in „Einkaufen in Zeiten des Krieges“. Einmal mehr beweisen sich Marcus Wiebusch und Bassist Reimer Bustorff, der die Texte für „München“, „Blaue Lagune“, „Einkaufen in Zeiten des Krieges“ sowie „Was wir sehen wollten“ schrieb, als gute und genaue Beobachter, Chronisten und Geschichtenerzähler. Und Wiebusch in „Ein Brief meines 20-jährigen Ichs (jedes Ideal ist ein Richter)“ zusätzlich als sich selbst reflektierender Mensch. Darüber hinaus schenken uns Marcus und Lars Wiebusch, Reimer Bustorff, Erik Langer und Christian Hake auf „Gute Laune ungerecht verteilt“ auch noch einige ihrer besten Songs. Da ist er, der nächste Karrierehöhepunkt.
„Gute Laune ungerecht verteilt“ von Kettcar erscheint am 05.04.2024 bei Grand Hotel van Cleef. (Beitragsbild von Andreas Hornoff)