Wichtig und großartig: In „Rebel Queens“ erzählen Kersty und Sandra Grether die Geschichte von mehr als 40 weiblichen Rockmusik-Acts
von Sebastian Meißner
Jahrzehntelang ist die Geschichte des Rock’n’Roll ausschließlich aus männlicher Perspektive erzählt worden. Frauen spielten darin maximal eine Nebenrolle und wurden – bis auf wenige Ausnahmen – als nicht gleichwertig betrachtet. Die Zwillinge Kersty und Sandra Grether, bekannt für ihren Einsatz für andere Geschlechterverhältnisse und auch ihre Band The Doctorella, legen nun mit „Rebel Queens – Frauen in der Rockmusik“ eine weibliche Version der Geschichte vor.
Die korrigierte Version der Geschichte
Dabei portraitieren die Autorinnen insgesamt rund 40 musikalische Acts und gehen chronologisch vor. Den Anfang macht Sister Rosetta Tharpe, die als „Erfinderin des Rock’n’Roll“ gilt – ein Umstand, den das Buch zu Recht betont. Unter den weiteren Porträts finden sich unter anderem Grace Slick, Nina Simone, Joan Jett, Nina Hagen, PJ Harvey, Lady Gaga, Peaches, Pussy Riot, Billie Eilish und Wet Leg.
Den Grether-Schwestern geht es nicht darum, eine vollständige Enzyklopädie vorzulegen, sondern ein lebendiges, subjektives „Standardwerk über Rockmusikerinnen“, das Diversität statt Vollständigkeit in den Mittelpunkt stellt. Die Porträtierten wollen sie nicht nur als Vorbilder zeigen, „sondern ihnen in ihrer eigenen Denkweise gerecht werden“. Nicht ganze Lebenswege, sondern prägnante Essenzen bilden den Kern der Erzählungen.
Leidenschaft, Analyse, Provokation
Das gelingt den Autorinnen in beeindruckender Weise. Ihre Texte sind zugleich faktisch, analytisch, leidenschaftlich, unterhaltsam und mitunter provokant. Schon die Frage „Was genau passiert da, wenn Fender auf Gender trifft?“ bringt den Anspruch des Buchs auf den Punkt. In der Anordnung der Porträts spiegeln sich die jeweiligen zeitgeschichtlichen Entwicklungen – vom Blues und Gospel der 1940er über den Punk und Riot Grrrl der 1980er und 1990er bis zu den gegenwärtigen popfeministischen Stimmen.
Die sich wandelnden Rahmenbedingungen führen nicht nur zu unterschiedlichen Zugängen zur Musik, sondern auch zu variierenden Themen, Anerkennungsformen und Rezeptionsweisen. Gleichzeitig offenbaren sich verblüffende Parallelen zwischen Künstlerinnen, die auf den ersten Blick wenig miteinander zu tun haben – etwa zwischen frühen Bluespionierinnen und heutigen Indie-Ikonen.
Rebellion, weil sie sein muss
„Rebel Queens“ ist somit weit mehr als ein Handbuch: Auf fast 400 Seiten, reich bebildert und in klarer Sprache geschrieben, entfalten die Grether-Schwestern ein ebenso persönliches wie politisches Panorama weiblicher Rockgeschichte. Immer wieder stellen sie unbequeme, aber kluge Fragen wie: „Wäre Phoebe Bridgers ohne Joni Mitchell denkbar?“ oder „Hat PJ Harvey den Feminismus verraten?“
Damit zeigen sie, dass feministische Popkritik sowohl kritisch als auch liebevoll, analytisch und emotional sein kann. Wer eine fundierte, engagierte und inspirierende Perspektive auf die Geschichte der Rockmusik sucht, findet in „Rebel Queens“ einen exzellenten Einstieg – und zugleich einen leidenschaftlichen Appell, die Musikgeschichte nicht länger nur durch das männliche Mikrofon zu betrachten.
Kersty und Sandra Grether: „Rebel Queens“ Reclam Verlag, Hardcover, 395 Seiten, 978-3-15-011506-0, 28 Euro: (Beitragsbild: Buchinnenseiten)
