Kai Wieland: Zeit der Wildschweine

Kai Wieland credit Marijan Murat

Mit seinem zweiten Roman „Zeit der der Wildschweine“ befindet sich der in Stuttgart wohnende Autor Kai Wieland weiter auf einem unaufhaltsamen Weg, die deutsche Literaturszene zu erobern

Merkwürdig. Mehr als zwanzig Jahre wohnte Leon in unmittelbarer Nachbarschaft mit den Wildschweinen und bekam noch nie welche zu Gesicht. Lediglich die Saugänge auf den benachbarten Rapsfeldern waren Leon ein Begriff, die er nie den nachtaktiven Tieren zuschrieb. Aber der Reisejournalist ist ja auch ein Tagträumer. „Die Tage über träumte ich, und nachts schlief ich traumlos, während die Tiere sich durch den Garten gruben und die Töpfe mit den Paprika und den Strauchtomaten umstießen. Mehr als zwanzig Jahre! Ich war arglos gewesen.“ Arglos gegenüber seiner rätselhaften schwäbischen Heimat. In die der viel herumgekommene Endzwanziger zurückgekehrt, um sich eine von seinem Auftraggeber für ein neues Projekt geschickte Videokassette auf dem dafür vorgesehenen Rekorder im Haus seines Vaters anzuschauen.

Kai Wieland erzählt zwei Handlungsstränge parallel

Kai Wieland Zeit der Wildschweine Cover Verlag Klett Cotta

Ein Reisebericht über sogenannte „Lost Places“ in der Nähe der nordfranzösischen Stadt Dünkirchen ist  das Ziel seiner neuen Arbeit. Parallel erzählt Kai Wieland in seinem, nach dem auch bei Sounds & Books euphorisch besprochenen „Amerika“,  zweiten Roman „Zeit der Wildschweine“ die beiden Handlungsstränge. Die Vater-Sohn-Familien-Dorfgeschichte auf der einen, die Erfahrungen an der französischen Kanalküste auf der anderen Seite. Während Leon in heimatlichen Gefilden mit seinem Vater – der im Verlauf der Handlung einen Schlaganfall erleidet – die Wohnung tauscht und in dessen Haus zieht, hat er auf seiner Frankreichreise den Fotografen Janko in seinem Schlepptau, den er beim Kickbox-Training kennen gelernt hat. Aus den Partnern werden bald Rivalen, die sich auf den Spuren ihrer jeweiligen Idole, dem Schriftsteller Ernest Hemingway sowie dem Fotografen Robert Capa, wiederfinden.

Die Identitätssuche

Sehr früh im Roman stellt Leon Janko die Frage, ob er sein Tyler Durden sei. Obwohl dieser verneint, stellt Kai Wieland den Bezug zum Film „Fight Club“ her, in dem Tyler Durden nur in der Vorstellung des an einer Identitätsstörung leidenden Protagonisten existiert. Das Verhältnis zwischen Leon und Janko sollte man also mit Vorsicht genießen, zumal Wieland mit seinem Ich-Erzähler einen identitätssuchenden Charakter erfindet. Eine zwischen Heimat und Fremde changierende Persönlichkeit, die als Individuum ihren Platz im Spannungsfeld von Familie und globalisierter Welt sucht.

Kai Wieland und das popkulturelle Ereignis

Der 1989 in Backnang geborene und in Stuttgart lebende Autor, der mit dem Manuskript von „Zeit der Wildschweine“ auf der Shortlist des Alfred-Döblin-Preises 2019 stand, greift auf die Existentialisten zurück, bedient sich surrealistischer Motive und hält einige exzentrische Nebenfiguren parat. Seine von starken Bildern geprägte, wehmütig-melancholische Sprache wird von subtil-feinsinnigem Humor durchzogen. Zahlreiche cineastische, musikalische und literarische Anspielungen und Verweise machen den Roman auch zu einem popkulturellen Erlebnis. „Amerika“ war Wielands erstes großes literarisches Versprechen, das er mit seinem Nachfolger mehr als einlöst. Ein wunderbarer Erzähler auf seinem unaufhaltsamen Weg, die deutsche Literaturszene zu erobern.

Kai Wieland: „Zeit der Wildschweine“, Klett-Cotta, Hardcover, 271 Seiten, 978-3-608-98225-1, 20 Euro (Beitragsbild: Marijan Murat)              

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