Die etwas andere Reifeprüfung des Julian Barnes
Die Ausgangskonstellation erinnert unweigerlich an Charles Webbs Roman „Die Reifeprüfung“, bekannt geworden durch die Verfilmung von Mike Nichols mit Dustin Hoffman in der Hauptrolle. Junger Student beginnt eine Liaison mit einer Frau, die alterstechnisch seine Mutter sein könnte. Doch im Gegensatz zu Benjamin Braddock, der mit Mrs. Robinson eine Affäre beginnt, sich aber in deren Tochter verliebt und mit dieser zum Schluss durchbrennt, entwickelt sich das Verhältnis von Paul Roberts und Susan Maclaod in Julian Barnes Roman „Die einzige Geschichte“ zu einer über zehn Jahre dauernden Liebesbeziehung.
Ein zwischenmenschlicher Drahtseilakt
Der 19-jährige Paul lernt die fast 30 Jahre ältere Susan als zugeloste Partnerin für ein gemischtes Doppel während einer Tennispartie kennen. Paul und Susan leben in der zweiten Hälfte der 60-Jahre im städtischen Randgebiet, fünfzehn Meilen südlich von London. Paul ist ein junger Mann aus der Mittelschicht, der seine Haare der Zeit angepasst etwas länger trägt, aber kein Hippie und politisch desinteressiert. Susan ist mit einem patriarchalisch-herrschsüchtigen Mann verheiratet, hat zwei Töchter, beide etwas älter als Paul, hatte seit zwanzig Jahren keinen Sex und spricht über ihren Jahrgang von der „abgehalfterten Generation“. Aus der gegenseitigen Sympathie der ersten Begegnung wird für Paul sukzessive die erste große Liebe des Lebens, die zu einem gemeinsamen Domizil in London führt. Was zunächst märchenhaft romantisch klingt, entpuppt sich als ein zwischenmenschlicher Drahtseilakt.
Julian Barnes und die Frage nach dem Glück
Julian Barnes teilt seinen neuen Roman in drei Kapitel und lässt „Die einzige Geschichte“ aus Pauls Sicht mit der Distanz von fünfzig Jahren Revue passieren. Dabei wechselt der 73-jährige englische Schriftsteller von der Perspektive der ersten in die zweite, sowie in die dritte Person. Der fortschreitenden Lebensdauer – Paul blickt in der Retrospektive auch auf seine Post-Susan-Zeit – begegnet Julian Barnes mit größerer literarischer Distanz und wirft in essayistischer Form Fragen nach dem Glück auf. Pauls selbstreflexive, aus dem Gedächtnis entsprungene, als Wahrheitsfinder dienende Erinnerungen dieser Liebesgeschichte sind von feinster Ironie durchwoben und mit filigraner Feder geschrieben.
Julian Barnes: „Die einzige Geschichte“, Kiepenheuer & Witsch, Hardcover, aus dem Englischen von Gertrude Kueger, 978-3-462-05154-4, 22 Euro (Beitragsbild: Buchcover).