Juli Zeh: Über Menschen – Zurück in Brandenburg

Zeh Juli by Peter von Felbert

Bestseller und literarischer Pageturner: Juli Zeh fesselt auch mit ihrem zu Corona-Zeiten spielenden Roman „Über Menschen“

Mit ihrem neuen Roman „Über Menschen“ knüpft Juli Zeh nicht nur im Titel an ihren 2016 erschienenen und für das ZDF verfilmten Bestseller „Unterleuten“ an – dazwischen lagen die ebenfalls von Sounds & Books besprochenen Bücher „Leere Herzen“ und „Neujahr“. Erneut entführt uns Zeh nach Brandenburg, in das fiktive kleine Dorf Bracken in der Prignitz, unweit des von ihr einst erfundenen Ortes Unterleuten. Wimmelte es im brandenburgischen Epos „Unterleuten“ noch von zahlreichen Protagonisten, reduziert Juli Zeh ihr Personal in „Über Menschen“ auf eine übersichtliche Zahl mit der Hauptfigur Dora als Dreh- und Angelpunkt des Romans.

Von Berlin ins Brandenburger Dorf

Die linksliberale Mittdreißigerin zieht just in der voll ausgebreiteten Corona-Pandemie im Frühjahr 2020 von Berlin nach Bracken. Bereits im Dezember davor hat sie sich ein renovierungsbedürftiges Haus am Dorfrand Brackens gekauft, nun erlauben und nötigen die Berliner Umstände die erfolgreiche Werbetexterin aus der Hauptstadt zu einer gewissen Flucht aufs Land. Die Arbeit im dann doch zu beengten Home-Office und ihr vom Klimaschutzaktivisten in einen Corona-Warn-Experten verwandelter Freund Robert, der mit einer Kolumne über das Virus als Journalist für Furore sorgt und von dem sie sich sukzessive entfremdet, sind die treibenden Kräfte für ihren Umzug nach Bracken. Bereits in Berlin hatte sie meistens nur mit Roberts Freunden zu tun, in Bracken ist Dora über Nacht ganz auf sich allein gestellt und hat von der Instandhaltung von Haus und Garten nur eine rudimentäre Ahnung.

Der Nazi-Nachbar

Juli Zeh Über Menschen Cover Luchterhand Verlag

In Brandenburg trifft sie auf skurrile Dorfbewohner. Zum neuen Bezugsmittelpunkt entwickelt sich ihr direkter Nachbar Gote, der sich selbst als „der Dorf-Nazi“ vorstellt und von Juli Zeh als Antipode zu Dora eingeführt wird. Gote entspricht dann auch einigen landläufigen Nazi-Klischees: Wendeverlierer, rasierter Schädel, wegen versuchten Totschlags vorbestraft, mit seinen Kumpels singt er schon mal gerne das Horst-Wessel-Lied und droht Doras Hündin „Jochen-der-Rochen“ mit Ungemach.

Seit er von seiner Frau verlassen wurde, lebt Gote im Bauwagen und nicht mehr im Haus, in dem seine kleine Tochter Franzi bei Besuchen ein verwahrlostes Zimmer bezieht. Symbolträchtig steht ein hohe Mauer zwischen den beiden Grundstücken, Dora muss schon auf eine Stuhl stiegen, um mit Gote zu kommunizieren. Dieser entpuppt sich allerdings auch als fürsorglicher Nachbar, der ungefragt und für Dora etwas übergriffig bei der Einrichtung ihres Hauses hilft.Ähnlich wie Nachbar Heinrich, der als „R2-D2“-Verschnitt mit der Hilti überraschend zum Heckenstutzen bei ihr einfällt und sonst durch politisch unkorrekte und teils rassistische Witze auffällt.

Juli Zeh und die Ambivalenz

Juli Zeh bleibt in der Perspektive immerfort direkt bei Dora und schickt ihre Hauptfigur in permanente ambivalente Situationen. Doras Leben in Bracken bedeutet für sie, Widersprüche auszuhalten. Schwarz-Weiß-Denken stößt dort auf dehnbare Grenzen. Wie beim schwulen Paar Tom und Steffen. Während Kabarettist Steffen sein neues Programm „Über Menschen“ einstudiert und dort über besorgte Bürger und über Menschen wie Gote herzieht, scheint sein Freund Tom ein AfD-Wähler zu sein. Und Gote, bei dem Doras Vater, ein anerkannter Charité-Arzt, einen irreparablen Gehirntumor feststellt, erfreut sich bei einem Einkauf an der Schönheit von Hortensien. Dora entwickelt zu Gote, trotz dessen offen zu Tage tretenden Fremdenfeindlichkeit, und dessen Tochter Franzi eine freundschaftliche Beziehung, die mit der Tumor-Diagnostik an Intensität gewinnt.

Ein erneuter Juli-Zeh-Bestseller

Mit „Über Menschen“ bewegt sich Juli Zeh erneut am Puls der Zeit. Klimawandel, Corona-Pandemie, Berlin mit „seinen ganzen Durchgedrehten“ versus rechte Gesinnung im brandenburgischen Dorf, deutsche Politik und Weltgeschehen sind die Triebfedern des Romans. Mit ihrer stets im Flow befindlichen Sprache, den erheiternden und spitzfindigen Dialogen sowie einem gekonnten und von ihr gewohnt superb in Szenen gesetzten Spannungsbogen erreicht Zeh wiederholt ein großes Publikum, wie Platz 1 der aktuellen Spiegel-Bestseller-Liste beweist, und überzeugt die Rezensenten. Wenige Monate im Leben ihrer ständig für den Astronauten Alexander Gerst schwärmenden Protagonistin Dora, die aufgrund der coronabedingten Lage ihren Job verliert, reichen Juli Zeh für einen nicht nur gesellschaftlich relevanten, sondern auch beeindruckenden Entwicklungsroman und literarischer Pageturner. Zeh bleibt weiterhin eine der wichtigsten deutschsprachigen Erzählstimmen.

Juli Zeh: „Über Menschen“, Luchterhand, Hardcover, 416 Seiten, 978-3-630-87667-2, 22 Euro. (Beitragsbild von Peter von Felbert)  

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