Jürgen Goldstein: Nick Drake – Eine Annäherung

Jürgen Goldstein Nick Drake Eine Annäherung Buchcover

Auch 25 Jahre nach der großen Wiederentdeckung (und 50 Jahre nach seinem Suizid) bleibt Nick Drake rätselhaft. Nun gibt es eine deutsche Biographie zu dem Folk-Genie – oder zumindest eine „Annäherung“.

von Werner Herpell

„Ich fahre in die englischen Midlands, um das Grab von Nick Drake zu besuchen“, so beginnt der Philosophie-Professor Jürgen Goldstein seine sensible neue Biographie über Nick Drake – die erste von einem deutschen Autor für die (wie überall) stetig wachsende hiesige Community von Verehrern des tragischen Brit-Folk-Genies. Dieser erste Satz sagt schon viel aus über die Art, wie sich Goldstein dem Gegenstand seiner „lebenslangen Faszination“, diesem zuletzt schwer depressiven, mit nur 26 Jahren wohl durch Suizid gestorbenen Singer-Songwriter, nähert: diskret, vorsichtig, gleichsam privat und auch ein bisschen (im positiven Sinne) demütig.

„Ich habe Zweifel“

Jürgen Goldstein Nick Drake Eine Annäherung Buchcover

Goldsteins „Nick Drake – Eine Annäherung“ ist (schon im Buchtitel) ganz anders als das vor drei Jahren erschienene englischsprachige 562-Seiten-Meilenstein-Werk „Nick Drake – The Life“ von Richard Morton Jack, eine ziegeldicke, allumfassende Biographie, die den Anspruch hatte, das Leben einer der rätselhaftesten, vielleicht auch unzugänglichsten Musikerpersönlichkeiten des Pop komplett auszuleuchten. Der 1962 geborene Koblenzer Geisteswissenschaftler versucht, auf knapp 300 Seiten den Mythos Drake über Eindrücke von seinem persönlichen Hintergrund (Familie, Freunde, Förderer), über die Exegese seiner gerade mal drei Dutzend offiziell überlieferten Songs, über eigene Gefühle für diese wunderschöne Musik zu entschlüsseln. Um am Ende seiner Recherche-Reise, beim Abschied von England, ohne Ärger einzuräumen: „Ich (…) gehe der Frage nach,  ob ich Nick Drake nähergekommen bin. Ich habe Zweifel.“

„Das Geheimnisvolle seiner Person hat er meisterlich zu schützen gewusst“, so lautet Goldsteins Fazit. Ob Drake das nun mit Absicht, als junger Künstler mit einem ausgeprägten Wunsch nach Privatsphäre, oder aus tief verwurzelter, womöglich krankhafter Verschlossen- und Schüchternheit tat, die ein trauriger Teil seiner viel zu kurzen Biographie wurde? Vielleicht ist es gerade das Unergründliche eines durch mentale Probleme gefährdeten, nicht vollständig gelebten Lebens, das die Faszinationskraft dieses zu Lebzeiten frustrierend erfolglosen, gleichwohl fabelhaften Songschreibers, grandiosen Gitarristen und mit einer warmen, einnehmenden Stimme gesegneten Sängers ausmacht.

Eine Pilgerfahrt und die Folgen

Nach Beginn seiner Pilgerfahrt nach Tanworth-in-Arden in den englischen Midlands, wo Nick Drake viele Jahre in einer gutbürgerlichen, liebevollen, musik-affinen Familie („gehobene britische Mittelschicht“) verbrachte und seinem Leben am 25. November 1974 mit Tabletten ein Ende setzte, taucht Goldstein mit diversen zeitlichen Sprüngen (also nicht chronologisch) immer tiefer in die zunächst unspektakulär wirkende Geschichte des Musikers ein. Kurz streift er Drakes denkmalhohe Einstufung durch heutige Pop-Kritiker („Millenium hero“, „Legende“, „Fingerpicking-Genie“), spiegelt seine enorme Nachwirkung auf Promis und Musik-Größen, von Barack Obama und Brad Pitt über Elton John und Boy George bis zu Brad Mehldau, dessen Klavier-Jazz-Coverversionen von Drake-Songs besonders herausragen.

„Ihm wird von jenen, die sein schmales Werk kennen, Achtung, Verehrung, ja Liebe entgegengebracht“, schreibt Goldstein völlig zu Recht. Die besten seiner 31 Songs, die zu Lebzeiten auf den drei offiziellen Studioalben „Five Leaves Left“ (1969), „Bryter Layter“ (1970) und „Pink Moon“ (1972) erschienen, plus einige der fünf posthum veröffentlichten Aufnahmen seien quasi der „Gold-Standard, der für diese Kunstform den gültigen Maßstab setzt“. Recht hat er – fragen Sie nur mal Thom Yorke von Radiohead, Norah Jones, Guy Garvey von Elbow, Leslie Feist, Robyn Hitchcock oder Will Stratton.

Nick Drake fasziniert viele (immer mehr) Musiker

Welchem Stil Nick Drake letztlich zugeordnet werden kann, ob nun Folk, Jazz, Songwriter-Pop, Blues oder Rock-Psychedelia, bleibt angesichts der grenzenlosen Kompositionskunst dieses unfassbar begabten Musiker eigentlich irrelevant (und macht ihn heute für so viele, und immer mehr, Künstler aller Genres so spannend, zuletzt abgebildet auf der Tribute-Platte „The Endless Coloured Ways“ oder in der pianistischen Verbeugung von Demian Dorelli vor „Five Leaves Left“).

„Am 19. Juni 1948 wurde Nicholas Rodney Drake in Rangun im heutigen Myanmar geboren“, dieses nicht ganz unbedeutende biographische Detail erwähnt Jürgen Goldstein nach einem längeren, nachdenklichen Vorlauf erst auf Seite 22 seines Buches. Um dann gleich klarzustellen (und sich selbst abzusichern): „Ich schreibe keine Biographie. Ich schreibe eine Annäherung. Ich schreibe über jemanden, den ich nur durch seine Musik kenne, seine Songs, seine Alben. Die Fotos, die ihn zeigen, habe ich vor Augen, ich brauche sie kaum noch anzuschauen, um sie vor mir zu sehen. Seine Stimme ist mir durch die Aufnahmen bekannt wie die eines Freundes. Doch das ist alles aus zweiter Hand. Ich weiß nicht, wer er war.“

Eine ausgeprägte „Englishness“

Um doch mehr zu erfahren, hat der Wissenschaftler selbstverständlich mit Weggefährten des scheuen Musikers Kontakt aufgenommen – die üblichen Verdächtigen Joe Boyd (Produzent), John Wood (Tontechniker) oder Richard Thompson (Folk-Genre-Kollege) etwa tauchen in Zitaten aus Gesprächen, Mail-Antworten oder ihren eigenen Büchern in Goldsteins „Annäherung“ auf. Auch die ausgeprägte „Englishness“ von Nick Drake, das sehr Ländliche der Lieder, seine Liebe zu älterer britischer Literatur als Grundlage der Lyrics werden ausführlich beleuchtet. Und verdientermaßen die Virtuosität seines Gitarrenspiels.

Der deutsche Buchautor hat zum Glück ein breites musiktheoretisches und Text-Verständnis, das ihm eine profunde Würdigung der drei Drake-Alben ermöglicht. Auch wenn von dieser Stelle freundlich-dezenter Einspruch erhoben werden muss gegen die Einordnung der zentralen, mit vier Instrumentals aufwartenden Folk-Jazz-Platte „Bryter Layter“ – für Goldstein lediglich ein „merkwürdig interessantes, Höhe- wie Tiefpunkte bietendes Album“, für viele andere sein absolutes Meisterwerk. Sei’s drum, über Geschmäcker lässt sich bekanntlich nicht streiten. Insgesamt glücken dem Philosophen hervorragende, teils seitenlange Analysen zu „Time Has Told Me“ und „River Man“, zu „Poor Boy“und „Northern Sky“, zum schwer depressiven „Black Eyed Dog“ und zu „Pink Moon“ (dem Lied, das Drake vor 25 Jahren durch eine VW-Werbung doch noch zum „Star“ machte). Kenntnisreicher und liebevoller kann man so etwas kaum machen.

Für Jürgen Goldstein ist Nick Drake „majestätisch“

Ein Hinweis von Drakes Entdecker und großen Unterstützer Joe Boyd hat Jürgen Goldstein besonders „elektrisiert“: „Nick is a Norman for sure, regardless of what his DNA might say“, gab ihm der US-Amerikaner als Denkanstoß mit auf den Weg. „Nick Drake als Nachfahre der normannischen Eroberer? Als Mitglied einer herrschenden Adelsschicht?“, fragt sich Goldstein. „Sein künstlerisches Psychogramm fügt sich dieser Vorstellung. Drake strahlt in seiner Musik und seinem künstlerischen Habitus einen inwendigen Adel aus. Seine Kompositionen sind aristokratisch und formvollendet. Sie verstehen sich weder als Unterhaltung noch als Protest einer gegen die Verhältnisse aufbegehrenden Klasse, sondern als Kunst, durch die der Atem der Zeit geht: ‚Time has told me‘.“

Mag der Normannen-Vergleich von Boyd/Goldstein womöglich etwas zu weit hergeholt sein, zeigt er doch, wie tiefgründig gute Kenner von Nick Drakes Leben und Werk inzwischen auch mit Zweifeln oder Leerstellen umgehen, um das rätselhafte Mosaik dieser schwierigen Künstler-Biographie zu vervollständigen. „Drake war in seiner Kunst kompromisslos, selbstbewusst, entschieden, herrschaftlich und überlegen“, fasst der Koblenzer Autor das Ergebnis seiner überaus gelungenen „Annäherung“ zusammen. „Im Reich seiner Musik war er majestätisch. Mag er auch in den letzten Lebensjahren an allem gezweifelt haben – niemals an seiner Musik.“

Jürgen Goldstein: „Nick Drake – Eine Annäherung“. Matthes & Seitz Berlin, Hardcover, 292 Seiten, ISBN 978-3-7518-2043-1, 25,00 Euro. (Beitragsbild: Buchcover)

Nick Drakes Debütalbum von 1969 erscheint am 25.07.2025 bei Interscope als auf vier LP’s bzw. vier CD’s erweiterte Remaster-Edition „The Making Of Five Leaves Left“ inklusive Demos, Outtakes und Raritäten.

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