Jonathan Franzen: Unschuld – Roman

Ein neues Jonathan Franzen-Meisterwerk

von Gérard Otremba

Unschuldig ist im neuen Roman des amerikanischen Autors Jonathan Franzen niemand. Alle Protagonisten haben mehr oder weniger schwere Schuld auf sich geladen und lavieren sich mit ihren moralischen Fehlleistungen durchs Leben. Die 23-jährige Purity „Pip“ Tyler lebt in einer Wohngemeinschaft im kalifornischen Oakland, bekennt sich zu einem chaotischen psychischen Zustand und möchte endlich die Wahrheit über ihre Herkunft erfahren. Ihre depressive und zurückgezogen lebende Mutter verweigert ihr seit Jahr und Tag sämtliche Informationen diesbezüglich und so verlässt Purity (so auch der Originaltitel) ihr angestammtes Mutter-Umfeld, um beim „Sunlight Project“ des in Ostdeutschland aufgewachsenen Whistleblowers Andreas Wolf ein Praktikum zu beginnen, in der Hoffnung, Licht in die elterliche Vergangenheit zu bringen.

Andreas Wolf wiederum wuchs als Neffe des DDR-Auslandsgeheimdienstchefs Markus Wolf in einer privilegierten Ostberliner Familie auf, doch als Systemkritiker endete er letztendlich als Helfer für gefallene Jugendliche in einer schäbigen Kirchenunterkunft. Aus Liebe zu der 15-jährigen Annagret wird er gar zum Mörder, eine Tat, die es geheim zu halten gilt, doch in einem schwachen Moment erzählt er sein Geheimnis während der aufregenden Wendezeit dem amerikanischen Journalisten Tom Aberant, der ihm hilft, die verbuddelte Leiche von Annagrets Stiefvater und Peiniger aus dem Garten der elterlichen Datscha in einem weit entfernten Waldstück zu vergraben. Jahre später schließt sich der Kreis, arbeitet doch Pip Tyler in der Zwischenzeit für den Online-Pressedienst von Tom Aberant in Denver und kommt dem Mysterium ihrer familiären Vorzeit immer näher.

Mit Unschuld zeigt sich Jonathan Franzen am Puls der Zeit und gewohnt dialogfreudig und auf über 800 Seiten ausschweifend erzählt er eine mitreißende Geschichte über die moderne, transparente Welt voller menschlicher Abgründe. Außerdem erfindet Franzen in Pip Tylers Mutter eine skurrile und völlig abgedrehte Figur John Irvingscher Prägung, die einen teilweise selbst an den Rand des Wahnsinns bringt. Um das Tylersche Familiengeflecht zu offenzulegen, springt Franzen durch die Jahrzehnte und verzichtet auf eine lineare Erzählstruktur. Nach „Die Korrekturen“ und „Freiheit“ das dritte epische wie epochale Meisterwerk des 56-jährigen Jonathan Franzen. Ein ganz großes Lesevergnügen.

Jonathan Franzen: „Unschuld“, Rowohlt Verlag, übersetzt von Bettina Abarbanell und Eike Schönfeld, Hardcover, 978-3-498-02137-5, 26,98 €.

Kommentare

  • <cite class="fn">Constanze</cite>

    Ich bin auch sehr gespannt auf Franzens neuestes Werk. Nahezu gleichzeitig habe ich mir noch die Taschenbuch-Ausgabe von Jonathan Lethems Roman „Der Garten der Dissidenten“ gekauft. Auch hier spielt die DDR eine gewisse Rolle. Vielleicht ergeben sich Parallelen. Es ist interessant zu lesen, wie Amerikaner oder Autoren anderer Länder auf die DDR schauen.

  • <cite class="fn">Silvia</cite>

    Heute gekauft! Allerdings von meinem Mann, ich bin nicht so der Franzen-Fan. Aber diese Rezi verspricht viel, vielleicht versuche ich es nochmal.

  • <cite class="fn">Mareike</cite>

    Ich bin beeindruckt, wie schnell du dich durch 800 Seiten gelesen hast. Aktuell schreckt mich die Seitenzahl doch sehr ab, das liegt aber eher an meiner geringen Aufmerksamkeitsspanne als an dem Buch. Nach deiner Rezension hoffe ich auf ein wenig Ruhe in den kommenden Monaten für diesen (meinen ersten) Franzen.

    Liebe Grüße
    Mareike

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