Jon Savage: Sengendes Licht, die Sonne und alles andere – Die Geschichte von Joy Division

Joy Division by Kevin Cummins

Eine chronologische, aus Interviewausschnitten bestehende Biografie über Joy Division von Jon Savage

Es gab sie kaum mehr als drei Jahre und nur zwei Studioalben lang, doch wenige Bands haben die Musikgeschichte so geprägt wie Joy Division – auch vier Jahrzehnte nach dem Tod von Sänger Ian Curtis ist die Faszination ungebrochen. In der Oral-History-Biografie „Sengendes Licht, die Sonne und alles andere“ versucht Journalist und Wegbegleiter Jon Savage, das Phänomen Joy Division zu ergründen.

„An Joy Division hat mir gefallen, dass wir sehr gleichberechtigt waren: Die Band waren wir vier, und wir sind alle in die richtige Richtung gegangen. Joy Division waren vollkommen ausbalanciert, und das hat uns perfekt gemacht.“ Peter Hook

Die ungebrochene Popularität von Joy Division

Vierzig Jahre ist es heute, am 18. Mai 2020, her, dass Ian Curtis sich das Leben nahm, vierzig Jahre also auch seit dem Ende von Joy Division – vor allem im Verhältnis zu den weniger als vier Jahren, in denen diese Band existierte, eine enorm lange Zeit. Und doch ist die Popularität von Joy Division ungebrochen, scheint sogar zu steigen. Zumindest wenn man der hohen „Unkown Pleasures“-Shirt-Dichte glauben mag, über das ich letztens den allzu wahren Witz las: Sieht man jemanden dieses T-Shirt tragen, ist das Viertel gentrifiziert. Das bekannte Plattencover, das übrigens ein Pulsar-Diagramm ziert, wurde einst von einem 24-Jährigen mit begrenzten Grafikkenntnissen designt.

Der Mythos Joy Division

Jon Savage Sengendes Licht die Sonne und alles andere Die Geschichte von Joy Division Cover Heyne Hardcore

Diese Anekdote ist eine von vielen bekannten und weniger bekannten, die wir in „Sengendes Licht, die Sonne und alles andere“ des britischen Musikjournalisten Jon Savage erfahren, eine Oral-History-Biografie über Joy Division. Oral History, das bedeutet: „Die Geschichte von Joy Division“, so der Untertitel, besteht aus Interviewausschnitten, die von Savage chronologisch geordnet wurden. Neben den Bandmitgliedern Bernard Sumner, Peter Hook und Stephen Morris kommen unter anderem auch Peter Saville, besagter Grafiker, Ian Curtis‘ Ehefrau Deborah Curtis, Produzent Martin Hannet, der den Sound Joy Divisions wie kein anderer prägte, und Tony Wilson, legendärer Labelgründer, Musikmanager und Moderator, zu Wort. Mit ihnen und vielen anderen also hat Jon Savage, selbst Teil der damaligen Musikszene, im Jahr 2016 gesprochen und das Buch um weitere Interviews, die im Laufe der vergangenen vier Jahrzehnte entstanden, und Texte aus britischen Musikzeitschriften und Fanzines ergänzt, um so dem Mythos Joy Division auf die Spur zu kommen.

Joy Division, eine Band, die 1976, 1977 (zunächst unter dem Namen Warsaw) aus dem Spirit der DIY-Atmosphäre der Punkszene entstand, mit Iggy And The Stooges, Velvet Underground und Kraftwerk als Einflüssen, eine Band mit der typisch britischen Faszination für Nazi-Thematik und -Ästhetik und „eine Punkband mit literarischen Ambitionen“, wie eine Konzertkritik aus dem Jahre 1978 treffend beschreibt.

Das damalige Manchester

Vor allem aber eine Band, die wie kaum eine andere den Sound einer Stadt vermittelt. Manchester, einst reiche Stadt und Motor der Industriellen Revolution, war in den Siebzigern in seiner Tiefphase angekommen. Industrieruinen, Brachen, durch Fabriken verpestete Luft, Arbeitslosigkeit; er habe, bis er neun Jahre alt war, keinen Baum gesehen, so Gitarrist Bernard Sumner. Ob volle Wahrheit oder überspitzt formuliert, ist fast schon gleichgültig – es verdeutlicht die Atmosphäre, in denen er, Curtis, Hook und Morris und andere Bands, die sich in dem Zeitraum gründeten, aufwuchsen. Eine Tristesse, die sich in den düsteren Liedern von Joy Division widerspiegelt. Und Raum für viel Möglichkeit: Die leerstehenden Gebäude wurden als Clubs genutzt; vor allem Tony Wilson, der in seinem Independent-Label Factory Records nicht nur Joy Division, sondern später auch New Order signte und die beiden legendären Locations Factory und Haçienda gründete, war die treibende Kraft dahinter, dass Manchester (damals auch „Madchester“ genannt) ab den ausklingenden siebziger Jahren so legendär wurde.

Viele O-Töne und ein knappes Register

„Sengendes Licht, die Sonne und alles andere“ gibt einen kleinen Einblick in die Musikszene Manchesters. Es hilft aber, sich bereits vorher auszukennen: Die Oral History hat dadurch, dass die O-Töne ungefiltert sind, zwar eine interessante Erzählweise, die Nachteile aber überwiegen. Die Erlebnisse in keinerlei Kontext zu setzen und sie lediglich chronologisch zu sortieren führt dazu, dass sie von denjenigen, die sich mit der Geschichte Joy Divisions und Manchesters nicht bereits gut auskennen, parallel in den Wikipedia-Artikel lesen müssen, um mitzukommen. Man ist nicht nur bei den vielen Namen der Protagonist:innen, die zu Wort kommen, schnell verloren (es gibt ein sehr knappes Register), auch werfen diese wiederum mit dermaßen vielen Namen von Personen, Bands und Orten um sich, dass sich der Text wie ein Schwelgen in alten Erinnerungen liest und volle Konzentration mitunter schwer fällt. Durch die vielen O-Töne und dadurch, dass einzelne Ereignisse und Konzerte von mehreren Personen beschrieben werden, gibt es zudem einige Redundanzen. Und nicht zuletzt kommt Ian Curtis, da die Band zu ihren aktiven Zeiten eher ungern Interviews gab, kaum zu Wort, wodurch eine zentrale Person der Joy-Division-Geschichte fehlt. Dass der Verlag zudem an einem Bildteil gespart hat, obwohl mehrere Fotograf:innen ihre Arbeit beschreiben, ist schade.

Von Joy Division zu New Order

Ian Curtis, von seinen Bandkollegen und Zeitzeug:innen als freundlicher, zurückhaltender, belesener Typ beschrieben, litt an dem Stress, verursacht durch das Touren und den Lebensstil als Rockmusiker, an Depressionen und an seinen immer häufiger auftretenden epileptischen Anfällen. Mit seinem Suizid im Mai 1980 bricht auch das Buch ab – obwohl das zweite Album „Closer“ erst zwei Monate nach Curtis‘ Tod veröffentlicht wurde. Bernard Sumner, Peter Hook und Stephen Morris würden kurz darauf New Order gründen, eine Band, die den Sound der achtziger Jahre wie kaum eine andere prägte. Die bewusste Entscheidung, auch nach dem Tod von Ian Curtis weiterzumachen gab es nie, so der spätere New-Order-Sänger Bernard Sumner. „Bis heute haben wir uns nicht hingesetzt du gesagt: ‚Komm, wir machen dies und das.‘ Man macht es einfach und hofft das Beste, so sind wir.“

Jon Savage: „Sengendes Licht, die Sonne und alles andere – Die Geschichte von Joy Division, Heyne Hardcore, aus dem Englischen von Conny Lösch, Hardcover, 384 Seiten, 978-3-453-27251-4, 20 €. (Beitragsbild von Kevin Cummins)

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