John Hiatt: Leftover Feelings – Albumreview

John Hiatt & The Jerry Douglas Band credit Patrick Sheehan

Roadtrip-Lektionen von John Hiatt und der Jerry Douglas Band

Seien wir doch mal ehrlich: Einen anständigen Roadtrip könnte wohl jeder von uns gerade gut gebrauchen. Die Weite der offenen Straße, all die Möglichkeiten, die wie ein Hitzeflimmern dicht über dem Asphalt liegen, immer kurz vor dem Horizont, die nachlässige Verruchtheit gesichtsloser Motelzimmer und das verheißungsvolle Raunen des Motors. John Hiatt ist fraglos einer der Großmeister der soliden Roadtrip-Musik. Das Motorengeräusch bleibt diesmal allerdings aus: Sein neues Album Leftover Feelings – Nachfolger des 2018 veröffentlichten „The Eclipse Sessions“ – kommt nicht nur ganz ohne Drums aus, sondern auch ohne Verbrennungsmotor. „Long Black Electric Cadillac“ ist der Titel des treibenden Eröffnungssongs, und der macht schnell klar: Es darf ungebremst zur Sache gehen, gern auch bis zum Pazifik und wieder zurück, aber eben mit Ladepausen für den Akku auf halber Strecke.

John Hiatt, unterwegs mit einem Electric Cadillac

Und ganz im Sinne ökologischer Nachhaltigkeit stellt John Hiatt auf den weiteren Stücken des Albums unter Beweis, dass sich alles, was zu einem ordentlichen Unterwegssein gehört, mühelos auch mit einem electric Cadillac bewerkstelligen lässt: Von einer Telefonzelle in einer staubig-heißen Nacht irgendwo tief im Mississippi-Delta („Mississippi Phone Booth“) verschlägt es den Sänger auf seinem Weg in eine Stadt, die ihn an eine verpasste Chance erinnert („I’m In Ashville“), er begegnet einem problembeladenen Paar mit einem kleinen Baby, das er möglicherweise für eine Weile auf dem Rücksitz mitnimmt („Little Goodnight“) und beobachtet im Vorüberfahren einen, der lieber zu Fuß geht („Keen Rambler“).

Hiatts Glücksgriff mit The Jerry Douglas Band

John Hiatt Leftover Feelings Cover New West Records

John Hiatts Zusammenarbeit mit der Slide-Guitar-Legende Jerry Douglas und dessen Band erweist sich dabei als besonderer Glücksgriff: Die Band hat auf Hiatts neuem Album so viel eigene Persönlichkeit und Charakter wie schon lange nicht mehr. Douglas’ mal sehnsüchtige, mal beschwingt-vorwärtstreibende Dobrogitarre, unterstützt von Bass, Fiddle und elektrischem wie akustischem Gitarrensound, ergibt eine Stilsicherheit irgendwo zwischen Country, Rock & Roll und Blues, die sich konsequent durch alle elf Songs hält. Hiatts lakonischen Gesang bringt die Band dabei aufs Beste zur Geltung.

Jeder, der schon mal einen Roadtrip unternommen hat, weiß, dass es immer auch ein Weg nach Innen ist. Und so begegnet dem Sänger auch immer wieder die eigene Vergangenheit, mal in Form eines melancholischen Tributs an seine eigenen musikalischen Helden („The Music is Hot“) und mal geht es direkt hinein in den Abgrund, hin zu den Dämonen, die der Selbstmord seines älteren Bruders in ihm zurückgelassen hat („Light Of The Burning Sun“).

John Hiatts Optimismus

Eine besondere Perle auf Leftover Feelings ist die Neueinspielung von „All The Lilacs In Ohio“. Der Song hat nicht nur melodisch das Zeug, zu einem der schönsten Hiatt-Songs überhaupt gekürt zu werden. Hiatt stellt darin auch einmal mehr den großen Storyteller unter Beweis, der er in seiner lässigen Art eben auch ist: Eine flüchtige Begegnung mit einer Frau in New York wird gerade dadurch einzigartig, dass der Geruch ihres Taschentuchs, das sie am Ende einer unspektakulären Nacht im Taxi vergisst, den Sänger in seine eigene Kindheit zurückversetzt.

Und so finden sich in den Liedern so ziemlich alle Gefühle, die das Unterwegssein hervorzubringen vermag: Aufbruchsstimmung, Unternehmungslust, Melancholie, Daseinsgier, Sehnsucht, Wehmut. All das mischt John Hiatt, auf seine wunderbare, dabei sich selbst nie ganz ernst nehmende Art, mit einer ordentlichen Portion Optimismus. Die Leftover Feelings – also die übrig gebliebenen Gefühle – das ist eine der Roadtrip-Lektionen, die Hiatt uns einmal mehr vor Augen führt, sind am Ende immer die, die eigentlich zählen.

„Leftover Feelings“ von John Hiatt erscheint am 21.05.2021 bei New West Records. (Beitragsbild von Patrick Sheehan)

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