John Abercrombie: Gateway

John Abercrombie Getaway Albumcover ECM Records

Das kompromisslose Über-Album von John Abercrombie wird 50 Jahre nach Erstveröffentlichung als Vinyl-Reissue erneut aufgelegt

von Sebastian Meißner

1975, als dieses Album erschien, war John Abercrombie gerade knapp über 30. Ein Jahr zuvor hat er gemeinsam mit Jan Hammer und Jack DeJohnette das Album „Timeless“ veröffentlicht, das erste einer langen Reihe von Alben für ECM Records. Die Platte ließ aufhorchen und fand zahlreiche Bewunderer. Abercrombies Spiel lieferte etwas bis dahin Unerhörtes: Es war luftig und leicht und verband wie die Noten wie nebenbei zu Melodien, die so überwältigend schön waren, dass sie vergessen ließen, wie schwer sie zu spielen sind. Abercrombie, der Autodidakt war, zeigte schon auf seinem Debüt, dass er einer der poetischsten Jazz-Gitarristen überhaupt ist.

Keine Angst vor Rockmusik

John Abercrombie Getaway Albumcover ECM Records

Das Folgealbum, für das Abercrombie Pianist Jan Hammer durch den Bassisten Dave Holland ersetzte, war der noch größere Wurf und etablierte Abercrombie endgültig im Kreis der Großen. Das Trio orientiert sich nicht an anderen, sondern entwickelt auf diesen sechs Songs einen eigenen Stil, der sich allen Begriffskategorien entzieht. Abercrombie zeigt hier, dass er nicht nur lyrisch schön spielen kann, sondern auch kantig und unbequem. Dies liegt auch daran, dass vier der sechs Originale aus der Feder von Holland stammen, der sich zu dieser Zeit intensiv mit verstärkter Musik auseinandersetzte. „Gateway“ ist daher durchaus als Crossover-Platte zu bezeichnen.

Die Musik auf „Gateway“ ist durchaus herausfordernd. Die Dichte des Zusammenspiels und die Bereitschaft des Trios, Gefälligkeit dem Entdeckungsmut und der Experimentierfreudigkeit zu opfern, bringt Passagen hervor, die das Naheliegende und Eingängige weit hinter sich lassen. In Teilen dieses Albums driftet das Trio soweit aus der Komfortzone heraus, dass es die volle Aufmerksamkeit beim Zuhören fordert, will man noch verstehen. Wer diese Konzentration aufbringt, wird reich belohnt. Denn der Wagemut der drei ist schlicht inspirierend und geistöffnend.

John Abercrombie pflückt Noten

Wie Bass und Schlagzeug im Opener „Back Woods Song“ immer wieder die Akzentuierungen verschieben, bis man weder oben noch unten kennt und wie Abercrombie darüber scheinbar willkürlich Noten aus der Luft pflückt, ist ebenso mitreißend wie der ohne Netz und Boden aufgeführte „May Dance“, bei dem alles Gespielte Reaktion auf das just Gehörte ist, bis Aktion und Reaktion sich umzukehren scheinen. Alles mündet schließlich im fast zwölfminütigen „Sorcery I“, einem wilden und angriffswütigem Monster von Musik, das fauchend und um sich schlagend alle Vorhersehbarkeit von sich freihält. Danach ist man selbst als Hörer erschöpft wie ein Boxer in der letzten Ringpause.

Ein zeitloser Klassiker

„Gateway“ ist auch deshalb ein zeitloser Klassiker, weil es diese unbändige Kraft dreier Virtuosen vereint, die es sich hätten leichter machen können. Diese Platte aber ist ein Wagnis, ein tollkühner Gang ins Ungewisse und in jene Sphären, in denen kein Rat und kein Plan mehr helfen. Wir hören Instinkt und Kampfgeist, ein Ringen und Rangeln und die musikalische Kameradschaft der auf sich allein Gestellten. Und letztlich: eine der aufregendsten Platten des Gitarren-Jazz. Jetzt auf Vinyl erhältlich.

„Gateway“ von John Abercrombie erscheint am 31.05.2024 bei ECM Records. (Beitragsbild: Albumcover)

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