Ein guter Debüt-Roman des Blumfeld-Sängers
von Gérard Otremba
Landauf, landab arbeitet sich die deutsche Literaturkritik an Otis ab, dem Debütroman von Jochen Distelmeyer, einst als Sänger, Texter und Komponist der Hamburger Band Blumfeld bekannt geworden. Ein großes Medienecho war zu erwarten, zu wichtig und essentiell waren Distelmeyers Blumfeld-Texte ganz besonders in den 90er-Jahren, im sogenannten Diskurspop nahm der mittlerweile 47-Jährige eine herausragende Stellung ein. Überraschend jedoch der fast einhellig negative Trend der Kritik, positive Rezensionen sind rar gesät im Blätterwald, selbst im Rolling Stone Magazin, sonst seit Jahr und Tag treu an Distelmeyers, respektive Blumfelds Seite, ist von der „Irrfahrt eines Sängers“ die Rede. Der Roman sei zwar von Distelmeyers hoher literarischer Ambition geprägt, „aber als Erzähler verläuft er sich in Berlin-Mitte“.
Durchaus verwunderlich, bietet der Roman doch eine Vielzahl an klugen Passagen, aufgefangen in einer durchkonzeptionierten Rahmenhandlung. Von Hamburg nach Berlin gezogen ist einst nicht nur Jochen Distelmeyer, sondern nun auch dessen Protagonist Tristan Funke. Dort verarbeitet er in den wenigen Tagen des Jahres 2012, in denen Otis spielt, immer noch die Trennung von Saskia und konzentriert auf die Vollendung seines Romans Otis, einer modernen Interpretation von Homers Odyssee. Zeitpolitische und geschichtliche Exkurse spielen für Tristan Funke eine wichtige Rolle und vielleicht sucht er zu sehr die Parallelen in seinem Leben mit den Irrfahrten des Odysseus, doch bevölkern Distelmeyers Roman zahlreiche bemerkenswerte und vom Autor feinfühlig in Szene gesetzte Figuren. Hier Tristans junge Cousine Juliane, ein Gothic-Mädchen, für die Tristan ein Wochenende lang den Kümmerer spielen darf, nachdem ihr Vater Berlin wegen dringender Geschäfte verlassen musste, dort der streitbare Theaterkritiker, scharfzüngige Blogger und Kult-Autor Bernhard Lippnitz, der abgedrehte Lyriker Reimar Wellenbrink, der großspurige Investor und Verleger Jürgen Zaller, Tristans diverse Frauenbekanntschaften und natürlich sein guter Kumpel Ole, der mit seiner Familie in die USA auswandert und auf deren Abschiedsparty sich alle zur großen Sause versammeln.
Mit spitzer Feder entlarvt Jochen Distelmeyer die angesagte Hipster-Bohème Berlins, ohne sie bloßzustellen. Dabei bedient er sich zwar klischeehafter Stereotypen, jedoch lädt eine zarte Ironie den Leser zu häufigen Kicherattacken ein. Distelmeyer schreibt mitunter in einem elaborierten und prätentiösen Stil, liefert das Gegenteil von gestelzter Sprache gleicht mit, wenn er Julianes an Tristan gesandte SMS-Schnipsel offenbart: „Alles o.k. Melde mich asap.J.“. Stellen Sie sich vor, Distelmeyer hätte Otis in SMS-Speech, dem bisherigen Höhepunkt zur Verrohung der deutschen Sprache, geschrieben, das wäre ein Grund für vernichtende Kritiken. Ja, Jochen Distelmeyer geht die schwadronierende Erzähl-Leichtigkeit eines Sven Regeners ab, nichtsdestotrotz lassen Sätze wie
„Im den 80er Jahren unter den behüteten Verhältnissen einer wes6tdeustchen Mittelstandsfamilie im Hamburger Norden aufgewachsen, war er in seiner Erziehung nicht darauf vorbereitete worden, sich in einer Situation bewähren zu müssen, die ein Umdenken in einer Lebensplanung und einen entschieden maßvolleren Umgang mit Geldmitteln erforderte.“
einen umstandslosen Lesefluss zu. In Jochen Distelmeyers Roman Otis steckt mehr drin, als viele es wahr haben möchten. Und da Tristan Funke eine tragisch-komische Romanfigur geworden ist, lohnt sich das Lesen bis zur letzten Seite.
Jochen Distelmeyer: „Otis“, Rowohlt Verlag, Hardcover, 978-3-498-01203-8, 19,95 €.