Jesús Carrasco: Die Flucht – Roman

Ein archaischer, fesselnder und essentieller Debütroman

von Gérard Otremba

Die Flucht heißt der Debütroman von Jesús Carrasco, der letztes Jahr bei Klett-Cotta im Hardcover erschienen ist und nun als Taschenbuch im Unionsverlag vorliegt. Ein Roman, der mit seiner Kargheit und archaischen Kraft besticht. Jesús Carrasco lässt den Leser zunächst im Unklaren, nur spärlich und peu à peu erfahren wir Einzelheiten über den Jungen, der sich auf der Flucht vor dem Polizeiwachtmeister und seinen Schergen befindet. Auf der Flucht aus einem kleinen, wirtschaftlich ruinierten Dorf, in dem eine lange Dürreperiode das Leben unerträglich machte, trifft der namen- und alterslose Junge in einer wüstenähnlichen Gegend einen alten Ziegenhirten. Gemeinsam beginnt für sie der Kampf ums nackte Überleben. Auf der ständigen Suche nach Wasser und ein wenig Nahrung, gerät der Junge in die Fänge eines beinamputierten Mannes, der ihn überrumpelt, fesselt und an den Suchtrupp verraten will. Der Junge befreit sich und verfolgt seinerseits den neuen Peiniger und stellt ihn zum Kampf. Der kaum im Teenageralter angekommene Junge lernt das Böse der Welt auf allen Wegen kennen und findet lediglich im alten Ziegenhirten Trost, Halt und Menschlichkeit, obwohl kaum Worte zwischen den beiden gewechselt werden.

Der Junge und der Hirte gehen eine Schicksalsgemeinschaft ein, zwei gegensätzliche Charaktere, vereint in einer Notsituation, „der Hirte, eingeschränkt durch die fortschreitende Steifheit seiner Gelenke, ruhend, der unerbittlichen Glut des Himmels ausgesetzt. Der Junge, als verlängerter Arm des Alten, bereit für die Plackerei, die ihnen die karge Ebene auferlegte.“ In jener „Packerei“ gerät der Junge in weitere, seine letzten Kräfte mobilisierende Lebenslagen. Alles jedoch mündet in die unweigerliche Begegnung mit dem ihn jagenden Gesetzeshüter, der ihn einst missbrauchte. Der 1972 geborene Carrasco bedient sich häufig biblisch-religiöser Motive und evoziert eine verstörende, beklemmende und raue Atmosphäre. „Er wusste, egal, was er tat, er würde eine Todsünde auf sich laden. Ihm stand das Bild des Priesters auf der Kanzel vor Augen: das vergilbte Messegewand, der erhobene Zeigefinger, die Wölbung seines Bauches und er Geifer, der auf die Gläubigen herabregnete. Der Gerechte und der Pharisäer, der weise und der Narr, der Sanftmütige und der Tyrann, die Mutter und die Hure.“ Carrasco spielt wunderbar mit Metaphern, Kritik an Obrigkeiten, Autoritäten und ausbeuterischen, kapitalistischen Wirtschaftssystemen ist allgegenwärtig. Die Flucht von Jesús Carrasco ist ein brutaler, essentieller und fesselnder Debütroman.

Jesús Carrasco: „Die Flucht“, Unionsverlag, Taschenbuch, 978-3-293-20666-3, 11,95 €

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