Jane Austen: Vernunft und Gefühl – Roman

 

Ein berauschendes Lesefest

Es will mir scheinen, Jane Austen hatte es faustdick hinter den Ohren. Selbstverständlich ist die 1775 geborene und vor 200 Jahren am 18.07.1817 verstorbene Schriftstellerin eine Meisterin in der Beschreibung weiblicher Gemütszustände, wie die von Andrea Ott neu übersetzte, bei Manesse erschienene Fassung von Vernunft und Gefühl zeigt. Doch wesentlich markanter und schwerwiegender ist Austens ausgeprägtes Faible für Ironie sowie ihre brillanten Charakterstudien, die den 1811 erstmals veröffentlichten Roman auch heute noch zu einem berauschenden Lesefest werden lassen. Im Mittelpunkt stehen die Schwestern Elinor und Marianne Dashwood, die unterschiedlicher nicht sein könnten und die kontrastierenden, titelgebenden Parameter des Romans verkörpern.

Die 19-jährige Elinor ist die beherrschte, rationell denkende, konventionelle, ihre Gefühle nach außen unter Verschluss haltende Pragmatikerin, während ihre zwei Jahre jüngere Schwester Marianne die Rolle des aufbrausenden, schwärmerischen, romantischen und leidenschaftlichen Wildfangs zufällt. Doch weder Elinors betonte Vernunft noch Mariannes Gefühlsüberschwang führt die beiden in den so wichtigen Liebesdingen an ihr Ziel. Nach dem Tod ihres Vaters müssen sie gemeinsam mit ihrer Mutter das geliebte, aber von ihrem Stiefbruder geerbte und von dessen habgieriger Frau Fanny okkupierte Haus auf Norland Park in Sussex verlassen und in ein kleines Cottage in Devonshire ziehen.

Elinor muss somit die sich anbahnende Beziehung mit Fanny Dashwoods älteren Bruder Edward Ferrars auf die lange Bank schieben, der zu allem Unglück heimlich mit der intriganten Lucy Steele verlobt ist. Mariannes scheinbares Liebesglück heißt John Willoughby, der aber eines Tages wortlos nach London verschwindet und damit die empfindsame Marianne ins Gefühlsunglück stürzt. Es müssen noch weitere Irrungen und Wirrungen ausgestanden werden, bevor Elinor zu ihrem Edward findet und Marianne dem Werben des von ihr zuvor verschmähten, doppelt so alten Colonel Brandon nachgibt.

Natürlich möchte man Marianne und Jane Austen den Tocotronic-Albumtitel „Pure Vernunft darf niemals siegen“ zurufen, doch entschädigt die nur 41 Jahre alt gewordene Autorin in ihrem ersten, auf einen bereits Mitte der 90er des 18. Jahrhunderts im Alter von 20 Jahren geschriebenen Briefroman basierenden Werk mit einer Vielzahl köstlicher, ja satirischer Bonmots und fabelhafter Dialoge. Beides treibt sie auf die Spitze während eines Gesprächs zwischen John Dashwood, der seinem Vater am Sterbebett ein großzügiges Vermögen für seine Stiefschwestern versprach, und seiner Frau Fanny, die alles in die rhetorische Waagschale wirft, um ihm dieses Versprechen wieder abspenstig zu machen. Die Passage liest sich wie eine boshafte Kapitalismuskritik.

Mariannes frühe Gedanken über ihren Verehrer Colonel Brandon sind ebenfalls von exquisiter Dreistigkeit: „Wenn sein Gefallen an der Musik auch nicht jenes begeisterte Entzücken erreichte, das einzig mit dem ihren Schritt halten konnte, so war es doch achtenswert, verglichen mit der abscheulichen Gleichgültigkeit der andren, und sie war verständig genug einzuräumen, dass ein Mann von fünfunddreißig Jahren bestimmt schon alle heftigen Gefühle und jede Fähigkeit zu intensiver Freude hinter sich gelassen hatte. Sie war durchaus bereit, das fortgeschrittene Lebensalter des Colonels zu bedenken, das erforderte schon die Menschlichkeit.“ Für diese Pointen, für den geschliffen Erzählstil, für ihr Einfühlungsvermögen, für das Trostspenden für unglücklich Verliebte, für die Mannigfaltigkeit der Charaktere und ihren Sinn für das Musische lieben wir Jane Austens Romane auch 200 Jahre nach ihrem Tod.

Jane Austen: „Vernunft und Gefühl“, Manesse Verlag, aus dem Englischen übersetzt von Andrea Ott, mit einem Nachwort von Denis Scheck, Hardcover, 416 Seiten, 978-3-7175-2354-3, 26,95 €.

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