Jackie Thomae: Brüder – Roman

Jackie Thomae von Urban Zintel

„Brüder“ von Jackie Thomae ist ein schillerndes Aushängeschild zeitgenössischer deutscher Literatur

Nach ihrem vor vier Jahren erschienenen, episodenhaften, das Berliner Kreativ-Milieu sezierenden Debütroman „Momente der Klarheit“ knüpft sich Jackie Thomae in ihrem zweiten Prosawerk „Brüder“ die ost-west-deutsche Vergangenheit vor. Anhand zweier unterschiedlicher Biographien skizziert die 1972 in Halle an der Saale geborene Journalistin und Fernsehautorin den Werdegang der Halbbrüder Mick und Gabriel. Beide sind in den 70er- und 80er-Jahren ohne Wissen von der Existenz des jeweils anderen in der DDR aufgewachsen. Was sie vereint, ist ihr gemeinsamer, aus Afrika stammender Vater Idris, ein bei ihrer Zeugung in der DDR lebender Student, der wieder in seine Heimat zurückkehrte, um dort als Arzt zu praktizieren, und ihre vererbte dunkle Haut.

Deutsche Ost-West-Geschichte

Jackie Thomae Brüder Cover Hanser Berlin

In der ersten Hälfte des Buches konzentriert sich Thomae auf das Leben Micks, der als Teenager mit seiner Mutter und deren betuchtem neuen Freund nach West-Berlin zieht. Aus ihm entwickelt sich ein „Nachtlebendesperado“ und Clubbesitzer, der das hedonistische Leben der 90er in vollen Züge genießt, ständig seine Freundin Delia betrügt und aufgrund eines bedauerlichen Unglücksfalls die Notbremse ziehen muss. Erzählt Thomae diesen Teil aus der auktorialen Perspektive, wechselt sie im zweiten Teil des Romans in die erste Person Singular und lässt in kurzen Kapiteln Gabriel und dessen Frau Fleur zu Wort kommen. Der zielstrebige, manchmal etwas überkorrekte und überkandidelte Gabriel musste als Kleinkind zusätzlich zur Abwesenheit des Vaters den Verlust seiner Mutter verkraften und reift in London zum  Stararchitekten. Seine Ehe mit Fleur ist soweit intakt, sein Sohn Albert steckt in einem schwierigen pubertären Alter. Während sich Gabriel in Brasilien von einem Nervenzusammenbruch erholt, meldet sich Idris nach vielen Jahren bei seinen Söhnen.

Die Prosa von Jackie Thomae schärft Geist und Sinne

Fast wie en passant behandelt Jackie Thomae Themen wie Herkunft, Identität und Schicksal und entwirft ein mitreißendes und überwältigendes Sozialpanorama Deutschlands. „Brüder“ ist ein perfekt durchdachter, klug konzipierter und eloquent verfasster Gesellschaftsroman, dessen überbordende Leidenschaft und Dynamik sowie Jackie Thomaes Fähigkeit, plastische Charaktere zu zeichnen und in ihre Psyche vorzudringen, Geist und Sinne schärfen. Ein schillerndes Aushängeschild zeitgenössischer deutscher Literatur, das vollkommen verdient auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2019 steht. Ein Roman, so gut und wichtig für die deutschsprachige Literatur wie bisher „Halbzeit“ von Martin Walser, oder „Die Korrekturen“ von Jonathan Franzen für die amerikanische Literatur.   

Jackie Thomae: „Brüder“, Hanser Berlin, Hardcover, 432 Seiten, 978-3-446-26415-1, 23 Euro (Beitragsbild von Urban Zintel).      

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