Bernd Begemann und der kreative Schaffensprozess
Aufzeichnung und Fotos von Gérard Otremba
Im Dezember 2015 erschien das neue Album von Bernd Begemann, Eine kurze Liste mit Forderungen. Sounds & Books unterhielt sich mit dem Hamburger Musiker über seine neue Platte, sein Verhältnis zum Stadtteil St. Pauli, und den anderen wichtigen Dingen des Lebens.
Bernd, es sind nun vier Jahre seit Deinem letzten Album vergangen, ein vergleichsweise langer Zeitraum für Dich. Welche Gründe gab es für diese Wartezeit?
Oh Mann, ich könnte jede Woche ein Album machen. Es ist relativ aufwendig, Musik zu verpacken und rauszubringen. Musik zu machen, zu erträumen, zu spielen ist leicht, aber alles andere dauert eben eine gewisse Zeit. Vielleicht ist es auch gut, dass es nicht zu leicht ist, sonst würde es jeder ständig machen. Ich denke, die Zeit war nötig, um dieses überzeugende epische Werk aufzunehmen. Die Leute sind es gewohnt, dass ihre Indie-Rock-Platten immer acht, neun oder zehn Songs haben, meistens ähnlich klingen und sich um dieselben Sachen drehen. Wenn man sich unser Album anhört und ein bisschen darauf einlässt, wird man merken, dass wir eine größere Palette anbieten. Wir bringen die Hörer an mehr Orte, wir haben mehr Klangfarben, mehr Stimmungen. Das ist kein Singer-Songwriter-Album, das ist emotionaler Realismus, das hat auch etwas Journalistisches wie Balzac- oder Jonathan Franzen-Romane. Wenn es zum Beispiel Lieder sind, bei denen es um Begegnungen mit Frauen geht, dann schildere ich nach besten Wissen und Gewissen die Frauen nicht aus meiner Sicht, sondern sie sprechen mit eigenen Worten, sie vertreten ihren eigenen Standpunkt und das gibt dann für mich einen Konflikt, der interessanter ist, als das ewige Beklagen von schiefgegangenen Liebesbeziehungen. Das kann ich einfach nicht mehr hören. Ich bin dessen überdrüssig, dass mir irgendwelche depressiven Skandinavier von irgendwelchen missglückten Klassenfahrten aus den 80ern erzählen wollen. Alter, ja, es war schwer. Ich will‘s nicht hören. Es gibt sehr viele positive Stimmen über das Album, die das würdigen, aber auch einige, die damit überfordert sind, weil mein Stil zu schreiben nicht so blumig ist, ich benutze nicht viele Metaphern, ich mache keine vagen Andeutungen. Ich verschwende auch nicht viel Zeit, viele Lieder sind in so einer poetischen Verkürzung geschrieben, angelehnt an die Sprache in Noir-Krimis. Ich mag das, wenn man mit einem Satz alles umreißen kann.
Dein neues Album trägt den Titel „Eine kurze Liste mit Forderungen“. Kannst Du diese Forderungen kurz skizzieren?
Das ist natürlich jetzt ein poetischer Albumtitel. Ich bin politisch nicht so begabt, sonst könnte ich konkret Sachen fordern, die alles für jeden verbessern würden. Jede Tatsache, die man feststellt, birgt eine unausgesprochene Forderung, die müsste man dann als Hörer zusammensetzen.
In einem der zentralen Songs Deines Albums behauptest Du „St. Pauli hat uns ausgespuckt“. Nun bist Du innerhalb von Hamburg von Pauli nach Stellingen gezogen, was müsste sich denn an St. Pauli ändern, damit Du wieder zurückziehst?
Ich denke, der Zug ist abgefahren. Die letzten kulturellen Lungen, die ich im Stadtteil sehe, kommen mir vor, wie künstlich am Leben gehaltene Enklaven. Ich hoffe, ich irre mich. Ich hoffe, die Menschen, die sich für ein besseres, cooleres St. Pauli einsetzen, triumphieren. Ich bin ein moppeliger 53-jähriger, ich eigne mich nicht für Barrikadenkämpfe, ich muss es jetzt gut haben. Es sind viele Sachen zusammengekommen, wieso ich aus St. Pauli weggezogen bin, aber wenn in der Nachbarschaft die Hälfte der Zeit eine Fan-Meile ist, dann kommst Du Dir verarscht vor. Ich bin kein Komparse für diese Spießer.
Ist denn „St. Pauli hat uns ausgespuckt“ eine Art Antwort auf Deinen Song „Oh St. Pauli“ von 1996?
Es ist ein Sequel, eine Fortsetzung, definitiv. Ich muss leider gestehen, für mich ist St. Pauli, so sehr ich den Stadtteil, die Idee des Stadtteils auch liebe, nicht mehr dieser mystische Ort der Möglichkeiten. Es gibt bestimmt noch magische Verstecke hier irgendwo, aber die kenne ich nicht mehr. Eine neue Generation muss sie sich schnitzen.
Es gibt einen weiteren Titel auf dem neuen Album mit einem deutlichen Hamburg-Bezug, in dem Du Olli Schulz zur Rückkehr von Berlin nach Hamburg aufforderst. Was fehlt Hamburg ohne Olli Schulz?
„Komm zurück, Olli Schulz, alles ist vergeben.“ Es ist nicht nur Olli Schulz, sondern auch dass Leute wie Jochen Distelmeyer, Tocotronic und Thees Uhlmann weggezogen sind. Das ist echt ein Verlust für Hamburg. Wenn der „Echo“ in Berlin stattfindet, ist mir das egal. Aber die oben genannten sind wirklich ein Verlust für andere, die hier in Hamburg Anregung suchen.
Nun habe ich unlängst Olli Schulz beim Rolling Stone Weekender über die „Musical“-Stadt Hamburg lästern gehört. Ist denn eine Rückkehr realistisch, oder hat Hamburg seine Künstler verloren?
Wenn die Leute erst mal in Berlin sind… Ich kann nur für mich sprechen, ich finde, Hamburg ist eine Stadt, aus der man nicht wegzieht, es sei denn man wird durch äußere Umstände dazu gezwungen. Wenn andere das anders sehen, dann sehen sie das anders.
Neben Deiner Stammband Die Befreiung hattest Du illustre Gäste wie Stoppok, Dirk Darmstädter, Paul Pötsch oder Carsten Friedrichs bei den Aufnahmen im Studio. Wie verlief die Zusammenarbeit?
Toll! Wir haben die Aufnahmen offen und festlich angelegt. Wenn zum Beispiel ein Chor gesungen hat, dann waren wirklich zehn oder zwölf Leute gleichzeitig um ein oder zwei Mikros versammelt, hatten Kopfhörer auf und sangen gleichzeitig. Das macht den Leuten Spaß, sowas macht kaum noch jemand. Das Studio Nord in Bremen, in dem wir aufnahmen, ist ein großer Raum und das klingt auch gleich viel besser. Ich denke, das war für alle Beteiligten eine willkommene Abwechslung von der normalen, kleineren Art, also in engen Räumen und vereinzelt aufzunehmen. Die Chorsession und die Musiksession war getrennt, 21 von den 28 Tracks sind Live-Takes, ich habe also gleichzeitig gesungen und Gitarre gespielt, nicht nur weil ich ein Angeber bin, sondern weil es auch besser ist, es sind organischere Takes. Vieles an der modernen programmierten Pop-Musik passt einfach nicht zusammen, die Summe der Teile ist nicht unbedingt größer als die Einzelteile, wenn die Einzelteile nicht miteinander harmonieren. Ich finde, unsere Aufnahme hat mehr Dynamik, ein schöneres Klangbild, mehr Wucht.
Und dem Sound liegt eine gewisse Freiheit zugrunde, wie ich finde.
Allein schon deshalb, weil die Musiker frei waren und weil ihnen niemand in den Kram redete. Wir haben lange nicht mehr so aufgenommen und hätten es früher tun sollen. Und andere sollten es auch tun. Ich will beim Musikhören was fühlen und nicht sagen müssen, das hat der Produzent aber schön zusammengestoppelt.
Vor fast 30 Jahren ist Deine erste Platte erschienen. Wenn Du auf diese Zeitspanne zurückblickst: Worauf hättest Du gerne verzichtet und welche Ereignisse prägten Dein Leben positiver Art?
Während der Aufnahmen zu „Jetzt bist Du in Talkshows“ habe ich beim Einpacken der Keyboards meine Tasche mit 12 000 DM auf dem Autodach vergessen. Das war schrecklich, darauf hätte ich gerne verzichtet. Ansonsten möchte ich auf kein einziges Konzert verzichten, auf kein einziges Album, auf keinen einzigen Stopp, den ich unterwegs gemacht habe. Jeder Mensch, den ich getroffen habe, alles, was ich versucht habe, ist prägsam bis heute und hat mir mein Vokabular gebracht, über das ich heute verfüge. Im Guten wie im Schlechten. Prägsam im Negativen ist wohl bis heute, dass ich in manchen Kreisen einen schlechten Ruf habe, wie so ein verrückter Onkel, der auf der Silberhochzeit auftaucht und man nicht weiß, ob man ihn nun albern, oder furchteinflößend finden soll. Das kommt wohl von einem Konflikt aus den 90er Jahre, den ich mit den stark politisierten Teilen der Hamburger Musikszene hatte. Ich finde nicht, dass man RAF-Terroristen zu Pop-Stars heroisieren muss, wie es einige Musiker getan haben. Sie sehen vielleicht auf ein paar Fotos gut aus, das macht sie aber nicht zu Pop-Stars. Der junge Stalin ohne Schnurrbart sah auf Fotos auch gut aus und ist deswegen auch kein Pop-Star. Das habe ich damals so gesagt und seitdem galt ich in gewissen Kreisen als Unperson. Dabei sollte doch die Musik als Wahrheit über politischen Fraktionskämpfen stehen. Politik steht unter Musik. Irgendwie bin ich dann in die Ecke des „Bürgerlichen“ geraten und viele, die noch nie Musik von mir gehört haben, assoziieren mich damit. Aber nein, ich habe Bürgerlichkeit beschrieben, das ist ein Unterschied.
Bist Du ein analoger oder digitaler Mensch? Eher Platte, oder Download, oder Stream? Wie stehst Du der neuen Zeit gegenüber?
Meine neue Zeit ist schon wieder die alte Zeit. Wenn ich unterwegs bin, geht nichts über die iPod-Classics. Die klingen unglaublich gut, besser als jede Kassette oder CD, die ich im Auto hatte. Aber die werden 160 GB nicht mehr gebaut. 40 000 Titel, wie toll! Aber statt dass sie jetzt 300 GB iPods bauen, bauen sie iPods mit 30 GB, aber mit Touch Screen. Scheiß auf das Touch-Display! Streaming ist natürlich kacke. Musik braucht man an Orten, wo es kein W-LAN gibt, in Kellern oder im Auto, oder so. Für die Privatwohnung, okay, ist eine nette Ergänzung. Ich hätte aber gerne meinen 500 GB iPod!
Gibt es denn fünf Alben, die Du auf eine einsame Insel mitnehmen würdest?
Es gibt ein paar perfekte Alben, wie ich finde, ob ich die mitnehmen würde, weiß ich nicht. „The Hissing Of Summer Lawns“ von Joni Mitchell, „Odessey And Oracle“ von The Zombies, „World Shut Your Mouth“ von Julian Cope, „Lapalco“ von Brendon Benson, ein moderner Klassiker, finde ich. Von mir aus auch die erste Clash-LP. Oder die erste Seite der ersten Ramones-LP. Wenn man das in den 70ern zum ersten Mal hört, das ist wie eine Mondlandung.
Du hast die Literatur bereits erwähnt und nun heißt das Magazin hier Sounds & Books. Gibt es denn auch Literatur, auf die Du nicht verzichten möchtest?
Balzac hat ja so ungefähr 70 bis 80 Roman geschrieben, davon habe ich 30 gelesen, die anderen schaffe ich nicht mehr. Ich mag seine Großstadtromane, die Bücher mit dem ländlichen Setting kann ich nur etwas schwerer zu folgen. Wenn man zum ersten Mal „Reise ans Ende der Nacht“ von Celine liest, wird einem schon klar, warum damit die Modernität definiert wird. Dem fühle ich mich auch verbunden. Nach allem, was man so über Celine hört, war es ein ekliger Typ, Antisemit usw., aber er hat alles beeinflusst, die französischen Existentialisten, de Beauvoir, Sartre, Camus haben sich alle auf ihn bezogen, für die war das ihr Punk-Rock, ihr Urknall der Modernität. Wie definiert Celine die Modernität? Direkt hinein in die Emotionen mit einem S-Bahn-Zug. Sich nicht aufhalten mit Charakterisierungen und Landschaftsbeschreibungen, direkt rein in die Sache selbst. Eine Definition, die meiner Meinung nach immer noch gilt, der ich auf meine Art auch folge. Das mag ich an Songs. Du kannst gleich mit dem Wichtigsten anfangen und kannst es dann entwickeln, vielleicht auf eine schockierende Schlussfolgerung. Manche meiner Songs haben schockierende Enden wie Horrorkurzgeschichten. So was gefällt mir. Dass ich als 12-Jähirger Epikur gelesen habe, gibt mir bis heute Seelenfrieden. Ich habe seitdem eine Menge gelesen, aber ich finde es unübertroffen. Er sagt zum Beispiel über den Tod, dass es ein Augenblick ist, den wir nicht fürchten müssen und der niemanden etwas angeht. Ich finde das so erleichternd, zu wissen. Und es stimmt. All die anderen Geschichten, die sich Menschen ausgedacht haben, mit den Jungfrauen und dem Paradies, das überzeugt mich überhaupt nicht. Was Epikur über den Genuss sagt. Genießen bedeutet eben nicht, das Teuerste oder Erlesenste zu sich zu nehmen, sondern das zu würdigen, was man in der Hand hat. Er plädiert dafür, seine nächste Umgebung zu durchschauen, um sie genießen zu können. Und so gibt es sicherlich noch so circa 20 Autoren, die mich ausmachen. So geht es sicherlich vielen Menschen und man kann nur hoffen, dass es dann nicht Paolo Coelho dabei ist.
Unabhängig von Epikur, würdest Du Dich als Genussmenschen bezeichnen?
Ja, deshalb habe ich auch zugenommen. Tatsächlich bringt das Streben nach wahrem Genuss die schönsten Blüten hervor. Ich schreibe ja auch nur Lieder, weil ich das fertige Gebilde genießen möchte. Ich erfreue mich an meinen Schöpfungen. Es gibt keine vergleichbaren Lieder. Ich kann nicht verstehen, wieso das nicht mehr Leute würdigen, dass ich viele Sachen zum ersten Mal gemacht habe.
Dein neues Album ist sehr vielfältig und facettenreich geworden. Ist Dein eigenes Musikhören von vielen Stilarten geprägt?
Definitiv. Vielleicht ist das auch die Ursache, wieso einige Menschen mit unserer Musik ein Problem haben, weil sie eben keine Epikureer sind und sich irgendwann mal mit einer bestimmten Art von Musik abgefunden haben und die Vielfalt nicht mehr genießen können.
Gibt es denn Stilarten mit denen Du gar nichts anfangen kannst?
Im Augenblick habe ich eine Abneigung gegen programmierte Musik. Ich meine, jeder Idiot kann einen House-Track basteln, das ist so einfach. Ich habe gesehen, wie Leute das machen, ich habe ansatzweise selbst so was gemacht. Jetzt würde ich nicht sagen, dass ich House nicht anrühren würde. Es ist eine coole, effektive und billige Musik, mit der man vielleicht etwas ausdrücken kann, mag ja sein. Aber als Pop-Traditionalist, der ich irgendwo ja bin, muss ich feststellen, das House nichts anderes ist, als eine Billig-Version von Disco-Musik. Also, keine Stars, keine Songs, keine tollen Orchesterarrangements, keine großartigen Stimmen mehr. Für jemanden, der diesen Wandlungsprozess erlebt hat, war es eine Verarmung.
Hast Du Vorsätze für das neue Jahr, oder anders gefragt, wie sehen Deine Pläne für 2016 aus?
Freude verbreiten, Freude empfangen. Wie man Freud Tilman Rossmy mal sagte, den guten Stoff produzieren und die Information vom Geräusch filtern. Tilman treffen. Und ich hoffe, Die Regierung macht ein neues Album.
Vielen Dank für das Interview, Bernd.
Gern geschehen.