Ein heiter-ironischer Sittenroman über die kulturellen Unterschiede Europas und Amerikas im 19. Jahrhundert
von Gérard Otremba
Die Gegenüberstellung der alten Welt Europa und neuen Welt Amerika zieht sich wie ein roter Leitfaden durch diverse Werke des amerikanischen Schriftstellers Henry James. So steht eben dieser Vergleich auch im Mittelpunkt des 1878 veröffentlichten Romans Die Europäer. In dem in den 40er-Jahren des 19. Jahrhunderts angesiedelten, überaus kurzweiligen Gesellschaftsromans schildert Henry James den Besuch der Baronin Eugenia Münster, die ihren Titel einer nicht standesgemäßen Ehe mit dem Fürsten Silberstadt-Schreckenstein verdankt, und deren Bruder Felix Young bei ihren in Neu-England lebenden Verwandten, der Familie Wentworth.
Die Wentworths sind durch Vermögensverwaltung zu Wohlstand gekommen, besitzen ein Anwesen in der Nähe von Boston und obwohl mit Prestige und alle Voraussetzungen eines glücklichen Lebens gesegnet, sind die amerikanischen Verwandten in ihren puritanischen Konventionen gefangen. Es mutet wie ein Kampf der Kulturen an, wenn James durch das Auftauchen der beiden Europäer ein Gefühls- und Gedankenchaos bei den Amerikanern auslöst. Während die Baronin den, leicht ramponierten, oft geschauspielerten, Antlitz des Adels vermittelt, ist bei ihrem Bruder der Name Programm. Felix ist ein durch und durch glücklicher Mensch, ein Bonvivant, ein Bohème, der als Musiker, Schauspieler und Maler durch Europa tingelte, um seinen Amateurstatus wohl wissend.
Von ihrem Onkel werden die Ankömmlinge misstrauisch beäugt, doch durch die Unbekümmertheit, die Lebenslust ihres Cousins angesteckt, beginnt in Gertrude Wentworth schnell ein Umdenken, das Erkennen, bisher ein falsches und verstelltes Leben geführt zu haben. Henry James‘ Roman Die Europäer lebt von seinen vielen schlagfertigen Dialogen, die zwar von (gewollten) Missverständnissen geprägt sind, aber in ihrer Schärfe an die feine Ironie eines Heinrich Heine und die komödiantische Klasse eines William Shakespeare reichen. So ist dieser nur gut 220 Seiten lange Roman geradezu prädestiniert für die Theaterbühne, zahlreiche Irrungen und Wirrungen bereithaltend.
Über den Europa-Amerika-Vergleich hinaus, zeichnet James in diesem heiteren, charmanten und unterhaltsamen Sittengemälde feinfühlig psychologisch austarierte Charaktere, die von den Hauptfiguren Eugenia, Felix und Gertrude, bis hin zu Nebendarstellern wie der spitzbübigen Göre Lizzie Acton reichen. Am Ende des Romans stehen vier Hochzeiten und eine unglückliche Person auf der Habenseite, keine gar so schlechte Ausbeute. Vor hundert Jahren (am 28.02.1916) ist Henry James als britischer Staatsbürger gestorben. Bereits in seiner Jugend bereiste er Europa und ließ sich Mitte der 70er Jahre des vorletzten Jahrhunderts in England nieder. Ein Autor, der die europäischen und amerikanischen Wesensmerkmale gut studierte und im Roman Die Europäer vortrefflich erzählt.
Henry James, „Die Europäer“, Manesse Verlag, Hardcover, neu übersetzt von Andrea Ott, 978-3-7175-2388-8, 24,95 €.