Gert Loschütz: Besichtigung eines Unglücks

Gert Loschütz by Bogenberger autorenfotos.com

Für seinen Roman „Besichtigung eines Unglücks“ erhielt der Schriftsteller Gert Loschütz (geboren 1946 in Genthin) den Wilhelm Raabe-Literaturpreis 2021, außerdem war der Roman in diesem Jahr für den Deutschen Buchpreis nominiert. Ausgangspunkt der Handlung ist eines der furchtbarsten Zugunglücke der Geschichte, das sich am 22. Dezember 1939 in Genthin ereignete, als ein D-Zug in voller Fahrt auf einen kurz vor dem Bahnhof stehenden anderen Personenzug auffuhr.

Mit dem Journalisten Thomas Vandersee hat Loschütz einen Ich-Erzähler geschaffen, der mit dem Autor einiges gemeinsam hat: Vandersees Mutter wächst in Genthin auf, im Jahr des Unglücks ist sie eine Jugendliche. Ende der 1950er Jahre übersiedelt sie mit dem Sohn nach West-Berlin. (Loschütz selbst übersiedelte mit seinen Eltern 1957 nach Hessen.) Die räumliche Nähe zu diesem schweren Unglück, aber auch die Verwicklung von Schicksalen und Lebenswegen bis in die Gegenwart hinein, in der Vandersee die Ereignisse rekonstruiert und niederschreibt, sind es wohl, die ihn bewegen, in die Vergangenheit zu reisen: In die Zeit des Zweiten Weltkriegs, die unmittelbare Nachkriegszeit in Berlin und die eigene Kindheit und Jugend der 1950er und 60er Jahre. – Eine Reise, die immer wieder unterbrochen wird durch Reflexionen auf seinen Schreibprozess, den Tod der Mutter und seine Beziehung zu der verheirateten Yvonne (von ihm Yps genannt, weil sie ihre Briefe an ihn mit Y. unterzeichnet).

Die Katastrophe

Gert Loschütz Besichtigung eines Unglücks Cover Schöffling Verlag

Der erste Teil des Romans, Vier Sekunden, ist der genauen Rekonstruktion des Zugunglücks gewidmet. Die akribische Recherche des Aktenmaterials versucht den Gründen für das Unglück auf die Spur zu kommen. Als würde sich die Zeit immer mehr dehnen, nähert sich die Beschreibung dem Moment der Katastrophe, als sei es möglich, die Zeit aufzuhalten, Geschehenes ungeschehen zu machen. Vandersee rekonstruiert die sich unmittelbar an das Unglück anschließenden langwierigen Bergungsarbeiten sowie die Gerichtsverhandlung, in der sich das Zugpersonal zu verantworten hat. Doch so gewissenhaft er auch gräbt, er findet keine überzeugende Antwort auf die Frage, warum das Personal des D-Zugs 180 mehrere Haltesignale überfahren hat. Diese „vier Sekunden“ – also jene Zeitspanne, in der noch ein Abwenden der Katastrophe möglich gewesen wäre – werden zur Chiffre für das ‚dünne Eis‘, auf dem wir uns bewegen, für die Unmöglichkeit, noch über den kleinsten Augenblick zu verfügen.

Dass Loschütz das Unglück aus der Perspektive zweier Ermittlungsbeamter rekonstruiert, erlaubt eine Doppelung der subjektiven Perspektive. Es spiegelt dem Leser das tragische Ereignis, den Schrecken, den es über alle Beteiligte bringt, aus der Perspektive des Zeugen und bietet ein Gegengewicht zur bloßen Faktizität des Aktenmaterials. Die Aufgabe des Erzählers wiederum ist es, dasjenige, was in den Akten festgehalten ist, in Frage zu stellen oder Ungereimtheiten aufzuspüren.

Gert Loschütz und eine parabelhafte Geschichte

Einer der beiden Ermittler, der die Weihnachtstage nach dem Unglück allein verbringt – allein mit den Bildern des Schreckens, die ihn heimsuchen – notiert in dieser Zeit einige Gedanken über den Zufall. „Was ist es, fragt Wagner, das die großen Katastrophen so anziehend macht? Die Durchbrechung der Ordnung, die es einen Moment lang erlaubt, die Dinge in ihrem Rohzustand zu betrachten, so, wie sie waren, bevor sie lernten, sich an die Gesetze und Fahrpläne zu halten? Beruht die Faszination, die sie ausüben, auf unserer Sehnsucht nach dem Chaos, der Ursuppe, aus der wir hervorgegangen sind?“ Was er auch niederschreibt – den Akten aus unerklärlichen Gründen beigelegt – ist eine kleine parabelhafte Geschichte über das Verhältnis von Zufall und persönlicher Verantwortung.

Eine Dreiecksliebesgeschichte in Zeiten der Judenverfolgung

Der zweite Teil, Carla und Richard, greift zwei der Opfer des Unglücks heraus und erzählt von einer Dreiecksliebesgeschichte in Zeiten der Judenverfolgung. Carla Finck ist liiert mit Richard Kuiper, einem in Düsseldorf lebenden Juden; Carla ist die Tochter eines nach Argentinien ausgewanderten jüdischen Musikers. Vermutlich mit dem Ziel, falsche Papiere für Richard zu beschaffen, reist sie gemeinsam mit dem Italiener Giuseppe Buonomo, der die junge Frau ebenfalls verehrt, nach Berlin. Auf der Rückreise nach Düsseldorf ereignet sich das Zugunglück, Buonomo stirbt, und Carla wird mit Verletzungen ins Krankenhaus eingeliefert. Dort wird sie, einigermaßen wiederhergestellt, von der Gestapo verhört; auf die Frage, ob sie mit dem in Neuss lebenden Juden Richard Kuiper verlobt sei, verleugnet sie ihn – für den Leser schockierend, zeithistorisch jedoch erklärbar. Von Carlas Lebensgeschichte nach dem Unglück, ihrem Umherirren in den verschiedensten Bindungen zu Männern indes erfahren wir im letzten Teil des Romans noch ein wenig mehr.

Gert Loschütz unterbricht die Erzählstränge

Wiederum wird die Erzählung einer Geschichte – einer Liebesgeschichte in Zeiten des Nationalsozialismus – beständig durch das Bewusstmachen rekonstruierender Forschung und Erinnerungsarbeit unterbrochen. Das hat zur Folge, dass wir Carla und Richard stets durch Vandersees Augen betrachten; es sind seine Fragen an das, was sie erleben, was sie zu ihrem Handeln motiviert, ja letztlich sind es die offenen Fragen, die das Erzählen vorantreiben, sodass sich bisweilen eine Spannung wie beim Lesen einer Kriminalgeschichte einstellt. Richard Kuiper, so erfährt Vandersee aus den Akten, wird 1942 von den Nationalsozialisten ermordet, Carla überlebt. Trotz aller Gebrochenheit der Perspektive – und das ist ein wahres Kunststück – kann sich der Leser in die Figuren einfühlen und ihr Schicksal teilen.

Eine gescheiterte Liebe

Der dritte Teil, Das Violinenfräulein, ist der Lebensgeschichte von Vandersees Mutter Lisa gewidmet. Hier nun verknüpfen sich die persönliche Geschichte des Erzählers und die von ihm rekonstruierten Lebensgeschichten. Denn Lisa, zur Zeit des Unglücks Lehrmädchen in einem Genthiner Bekleidungsgeschäft, war es wohl, die Carla immer wieder Bestellungen ins Krankenhaus brachte, sie auf diese Weise kennenlernte und am Ende womöglich in ihre Lebensgeschichte verstrickt wurde. Lisa lebt mit ihrem Sohn allein, unterhält allerdings eine geheime Liebesbeziehung zu ihrem Geigenlehrer, dem sie Ende der 1950er Jahre nach West-Berlin folgt.

Diese Liebe ist es auch, aufgrund derer sie eine Zeitlang wieder mit dem Spielen beginnt. Doch die Liebe scheitert. Während „Der Begabte“, wie sie ihn nennt, schließlich ein Engagement in den USA annimmt, bleibt Lisa in Berlin. Sie erduldet die Enge in der Berliner Wohnung der Tante, der sie nur mit Hilfe eines Mannes zu entkommen vermag, der in der Nachkriegszeit eine Blumenladenkette aufbaut und zu Geld kommt. Ihre Träume, falls sie jemals welche hatte, gibt sie damit auf.

Gert Loschütz verrät wenig über seinen Ich-Erzähler

In all dem bleibt Vandersee ein Beobachter, über seine Empfindungen und Gedanken erfahren wir wenig; seine Aufgabe scheint es zu sein, das Leben anderer zu erforschen. Nahe kommt er uns jedoch dort, wo wir ihn als Jungen unsererseits dabei beobachten, wie er – ein Kind eben und doch in gewisser Weise auch hier ein Botschafter einer anderen Zeit – das Trümmergrundstück, Zeuge der Zerstörung inmitten des Wiederaufbaus, in der Nachbarschaft erforscht. Lange Zeit stellt sich für den Jungen die Frage nach dem Verbleib seines Vaters nicht, ist es doch das Schicksal so vieler Kinder seiner Generation, ohne Vater aufzuwachsen, da der im Krieg gefallen oder irgendwo verschollen ist. Er jedoch lernt seinen Vater kennen; der Moment, in dem ihm – vielleicht noch nicht einmal voll bewusst – klar wird, wer ihm in Gestalt seines Onkels tatsächlich gegenübersitzt, ist wohl eine der schönsten Szenen des Romans.

Der Brückenschlag der Literatur

Der vierte Teil, Aus den Notizheften, und der letzte, Carla, sind eher fragmentarische Kapitel, in denen die bestimmenden Themen des Romans (Schicksal, Schuld und Lebenslügen) noch einmal gebündelt und stärker in die Gegenwart Vandersees projiziert werden. Auch hier mischen sich faktenbasiertes Erzählen und ein Erzählen der Mutmaßung, der Vorstellung, des sich-Einfühlens. Das Ende des Romans berührt vielleicht deshalb auf so besondere Weise, weil den Leser und den Ich-Erzähler doch noch die Hoffnung auf eine Instanz hinter dem objektiv Überlieferten verbindet. Doch diesen Brückenschlag zwischen dem, was sich entzieht, und dem, was Akten zu dokumentieren imstande sind, vermag vielleicht einzig die Literatur zu leisten.

Gert Loschütz: „Besichtigung eines Unglücks“, Roman, Schöffling & Co. 2021, Hardcover, 336 Seiten, 978-3-89561-157-5, 24 Euro. (Beitragsbild: Bogenberger / autorenfotos.com)

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