Franzobel: Hundert Wörter für Schnee

Franzobel credit Julia Haimburger

Der österreichische Schriftsteller Franzobel begibt sich in seinem Roman „Hundert Wörter für Schnee“ auf die Spuren des Polarforschers Robert Edwin Peary

von Gérard Otremba

Franzobel hat es wieder getan. Nach den ebenfalls von uns rezensierten Romanen „Die Eroberung Amerikas“ sowie „Einsteins Hirn“ hat sich der österreichische Schriftsteller erneut eines historischen Stoffes angenommen. Und erneut hat er sich zum Scheitern verurteilte Protagonisten herausgesucht. Im Fall von „Hundert Wörter für Schnee“ bleibt diese Rolle Robert Edwin Peary vorbehalten, der von sich behauptet hat, der erste Mensch auf dem Nordpol gewesen zu sein. Allein, es fehlten die Beweise, weshalb Pearys Aussage nach wie vor höchst umstritten ist. Auch Franzobel geht vor der Theorie aus, dass der amerikanische Entdecker und Abenteurer 1909 kurz vor dem Ziel erschöpft die Rückkehr angetreten hat.

Ruhm und Eitelkeit

Franzobel Hundert Wörter für Schnee Cover Zsolnay Verlag

In den 20 Jahren davor unternahm Peary (1856-1920) etliche Versuche, den Nordpol zu erreichen, doch immer blieb er irgendwo in Grönland stecken. Franzobel zeichnet in seinem neuen Roman dieses abenteuerliche Leben nach und beweist einmal mehr, wie bravourös er historische Personen zum literarischen Leben erwecken kann. Nicht nur waren Ruhm und Eitelkeit Antriebe von Pearys Obsession, er erwies sich auch als „erfolgreicher“ Kolonialist, wie es in der damaligen Zeit gang und gäbe war. So lockte er mit diversen Versprechungen nicht nur sechs Ureinwohner Nordgrönlands (Inughuit) nach New York, sondern stahl auch noch die von ihnen als heilig angesehenen Meteoritensteine. Die Inughuit wurden als fremdartige Attraktion vermarktet, aber das Leben im virenverseuchten Big Apple brachte ihnen kein Glück. Vier von ihnen starben recht schnell, einer machte sich auf den Weg zurück nach Grönland, nur der knapp zehnjährige Minik blieb als Vollwaise zunächst in den USA.

Franzobel punktet mit schillernden Nebenfiguren

Peary, dessen Widerpart Frederic Cook – bevor es zum Zerwürfnis mit Peary kam, nahm Cook an einer seiner Expeditionen teil – sowie Minik, dessen Rolle sich im zweiten Teil des Romans voll entfaltet, sind die Hauptpersonen von „Hundert Wörter für Schnee“. Doch besetzt Franzobel sein Figurenensemble auch mit schillernden Nebendarstellern. Allen voran Pearys Ehefrau Josephine, die zwar mit nach Grönland darf, aber zumeist, von ihrem Gatten in dessen ehelichen Pflichten völlig vernachlässigt, wilde sexuelle Gelüste entwickelt. Oder Pearys afro-amerikanischer Diener und Dauerbegleiter Matt Hanson, der nicht selten diskriminierenden Äußerungen gegenübersteht, Vorurteilen indes mit seiner Belesenheit und Klugheit begegnet.

Ihm legt Franzobel, der die Geschichte aus der Perspektive eines Peary-Nachkommens erzählt, gerne mal Wörter in den Mund, die dem heutigen Sprachgebrauch zugrunde liegen. Ein für den 1967 geborenen Schriftsteller kein ungewöhnlicher literarischer Trick, mit dem er immer wieder die Gegenwart in die Vergangenheit transportiert und in diesem Fall die Person des Matt Hanson attraktiv gestaltet. Der wohl heimliche Gewinner dieses Romans.

Ein prachtvoller Franzobel-Roman

Franzobel errichtet mit „Hundert Wörter für Schnee“ ein buntes literarisches Panoptikum, in dem einem zwar aufgrund der ständigen Kälte in Grönland schon beim Lesen manchmal die Finger einfrieren, das aber vor Menschlichkeit wärmt. Sein der Satire naher, subversive Humor kennt mal wieder keine Grenzen (gut so) und der Kampf der Kulturen – sowohl die Amerikaner als auch die Grönländer bezeichnen die jeweils anderen als „Wilde“ – kennt keinen Sieger. Mit der Drohung von Donald Trump, sich Grönland einverleiben zu wollen, erhält „Hundert Wörter für Schnee“ einen hochaktuellen, von Franzobel so nicht geplanten Bezug. Marketing, das der Roman in dieser Form nicht benötigt hätte. Franzobels Literatur spricht eindeutig für sich. Ein prachtvoller Roman.

Franzobel: „Hundert Wörter für Schnee“, Zsolnay bei Hanser, Hardcover, 528 Seiten, 978-3-552-07543-6, 28 Euro. (Beitragsbild von Julia Haimburger)  

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