Franzobel: Einsteins Hirn

Franzobel credit Julia Heimburger

Ein imposantes Literaturvergnügen: Auch mit seinem neuen Roman „Einsteins Hirn“ beweist der österreichische Schriftsteller Franzobel seine Fabulierkunst

Mit Albert Einsteins Tod wittert Thomas Harvey seine große Chance. Der bis dahin völlig unauffällig lebende Pathologe soll das große Genie obduzieren. Harvey entnimmt Einsteins Gehirn und will dessen Genialität anhand einer Hirnforschung beweisen. Sein Chef erhofft sich dadurch eine größere Publicity für seine Klinik, doch schon schnell mehren sich die Stimmen, die in Thomas Harvey den falschen Mann in dieser Position sehen und ihm diese Forschung nicht zutrauen. Tatsächlich verläuft Harveys berufliches Leben anschließend völlig anders als geplant. Um nicht zu sagen, leicht aus dem Ruder.

Obsessive Züge eines Pathologen

Franzobel Einsteins Hirn Cover Zsolnay Verlag

Nachdem Einsteins Hirn mit Harvey zu sprechen beginnt, entwickelt der Pathologe obsessive Züge hinsichtlich seines Untersuchungsobjekts. Nur mit der Forschung mag es nicht so wirklich vorangehen. Versprochene Analysen kann Harvey nicht liefern und darüber hinaus vernachlässigt er sein Privatleben, so dass sich er seine Frau und die Kinder geradezu zwangsläufig verliert. Der österreichische Schriftsteller Franzobel, der mit „Das Floß der Medusa“ 2017 auf der Shortlist sowie mit „Das Fest der Steine“ (2005) und „Die Eroberung Amerikas“ (2021) auf der Longlist des Deutschen Buchpreis stand, nimmt uns in seinem neuen Roman auf eine faszinierende Reise durch die USA mit. Franzobel beginnt mit dem Todestag Einsteins im Jahr 1955 und begleitet seinen Protagonisten Thomas Harvey bis in dessen späten Jahre. In Rückblenden schildert er seine Herkunft und erzählt in seiner bekannt humorvollen und aberwitzigen Art und Weise vom gesellschaftlichen Abstieg des Pathologen aus Princeton.

Historische Fakten und Fiktion

Wie bereits in „Die Eroberung Amerikas“ hat sich Franzobel eine Person aus dem realen Leben ausgesucht, dessen Werdegang erfreulicher verlaufen hätte können. Drei Ehen hat Harvey wegen seines leidenschaftlichen Verhaltens Einsteins Hirn gegenüber, das sich über 40 Jahre lang in seinem Besitz befand, in den Sand gesetzt, hat entlang des Ostküste etliche Jobs angenommen und dementsprechend etliche Standortwechsel vollzogen. Franzobel orientiert sich an den historischen Fakten aus Harveys Leben und taucht nicht nur tief hinab in die Biographie Harveys, sondern auch in die Kulturgeschichte der USA. Thomas Harvey und Einsteins Hirn erleben LSD-Erfahrungen in Woodstock, stehen ungewollt am Rednerpult einer afroamerikanischen Demonstration in New York, zeigen sich offen den Strömungen einer hinduistischen Sekte, lernen den Schriftsteller William S. Burroughs und durch ihn die New Yorker Kunstszene kennen. Gleichzeitig rutscht Harvey in prekäre finanzielle Verhältnisse ab und muss sich auch im hohen Alter mit anstrengenden und schlechtbezahlten Jobs über Wasser halten.

Ein perfekt durchkomponierter Franzobel-Roman

In „Einsteins Hirn“ beweist Franzobel einmal mehr seine großartige Fabulierkunst, humoristisch durchtränkt, von originellen Einfällen wimmelnd und inhaltlich perfekt durchkomponiert. So lässt Franzobel Harveys Geschichte vom FBI-Agenten Sam Shepard, den Harvey in seiner ärztlichen Ausübung kurz als Patient in einer Anstalt für psychisch Kranke kennengelernt hat, erzählen und Nebenfiguren einige Jahre später in anderer Rolle wieder auftauchen. Harveys ehemalige Geliebte Gretchen Gruenspan entpuppt sich in den 70er-Jahren als führende Umweltaktivistin des Landes und die in einer Anstalt als sadistischer Hausdrache verschriene Trula Knispelgrant mutiert zur „Hippiequeen“. Sie und weitere von Franzobel glorreich in Szene gesetzte Charaktere – wie die beiden als eine Art Running Gag auftauchenden Ganoven Wjatscheslaw Krysolow und Vitali Windtmacher – bevölkern diesen vortrefflichen Roman. Ein imposantes Literaturvergnügen.

Franzobel: „Einsteins Hirn“, Zsolnay, Hardcover, 544 Seiten, 978-3-552-07334-0, 28 Euro. (Beitragsbild von Julia Heimburger)

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