Dostojewskijs provokantes Lehrstück in einer Neu-Übersetzung
Es wird wohl nur einer Minorität einfallen, den namenlosen Ich-Erzähler aus Fjodor Dostojewskijs Kurzroman Aufzeichnungen aus dem Abseits als sympathisch zu bezeichnen. Der vierzigjährige Protagonist, bekannt aus den bisherigen Übersetzungen Aufzeichnungen aus dem Untergrund und Aufzeichnungen aus dem Kellerloch, hält mit seiner zynischen Weltsicht wahrlich nicht hinterm Berg und diente vielleicht auch John Kennedy Toole als Vorbild für seinen Roman Ignaz oder Die Verschwörung der Idioten. So sehr sich Dostojewskijs Hauptfigur auch bemüht, nicht nur aus dem Abseits zu berichten, sondern sich auch ins selbige zu stellen, einen Mangel an Intelligenz kann man dem ehemaligen Bürokraten nicht unterstellen. Nach einer Erbschaft zurückgezogen, aber nicht in einem Kellerloch lebend, schlägt diese Intelligenz jedoch immer wieder in Arroganz um.
„Nun lebe ich in meinem Winkel dahin, mache mich selbst zum Gespött mit dem bösartigen und völlig untauglichen Trost, dass auch ein geistreicher Mensch tatsächlich nichts aus sich machen kann und dass nur ein Schwachkopf überhaupt etwas aus sich zu machen versucht.“
Doch trotz seiner permanent herablassenden Art besitzt der selbstzweifelnde Erzähler Esprit und Humor. Im zweiten Teil des Buches schildert er prägende und wenig erfreuliche Begegnungen aus seinen Mittzwanziger Jahren mit ehemaligen Klassenkameraden und einer Prostituierten, während er im ersten Abschnitt über seine Psyche und sein Außenseiterdasein schreibt sowie gegen die Modernismen einer liberalen Welt zu Felde zieht. Immer wieder wendet er sich in seinem Monolog an den potentiellen Leser, erklärt und entschuldigt gleichsam seine Selbstskepsis, moralisiert mit höchster Emphase und wirft mit teils abenteuerlichen, aber stets nachdenkenswerten Thesen zu den Themen Fortschritt, Wissenschaft und Zeitgeist essayistisch um sich, dass es eine wahre Pracht ist.
Nein, Fjodor Dostojewskij gönnt dem Leser mit seinem Antihelden keine Atempause und gewiss ist Aufzeichnungen aus dem Abseits keine eskapistische Lektüre, wie Ilja Rieger in seiner Rezension richtig bemerkt. Viel zu sehr reibt man sich an den Ansichten des die Isolation suchenden Schreibers. Viel zu sehr ist man damit beschäftigt, seinen Weltekel zu verkraften, den er beißend und sarkastisch zu Papier bringt. Aber just diese Auseinandersetzung mit jenen scheinbar abseitigen, mitunter ironischen Gedanken des erzählenden Misanthropen macht den Reiz dieses Buches aus. Manch einer mag in der Neu-Übersetzung von Felix Philipp Ingold das Kellerloch vermissen, ein anderer den fehlenden Untergrund bedauern, der Inhalt der Aufzeichnungen aus dem Abseits erweist sich jedoch nach wie vor als höchst lehr- und geistreiche, provozierende Unterhaltung, wider mehrheitlich angepasster Sichtweisen.
Fjodor Dostojewskij: „Aufzeichnungen aus dem Abseits“, Dörlemann Verlag, aus dem Russischen neu übersetzt und herausgegeben von Felix Philipp Ingold, Leinen, 256 Seiten 978-3-03820-032-1, 19 €.