Postpunk und Noise-Rock über „die Risse dieser Welt“: Die Nerven sind zurück mit dystopischen Texten und düsterem Sound. Beste deutsche Band derzeit, keine Frage.
von Werner Herpell
Wenn es nach dem selbstbetitelten „schwarzen Album“ von 2022 – also der Platte mit dem schönen Hund auf dem Cover – noch irgendwelche Zweifel daran gab, sind sie jetzt definitiv beseitigt: Die Nerven sind die derzeit wichtigste, klügste, beste Rockband des Landes. So, das musste jetzt mal in aller Deutlichkeit raus. Denn auch „Wir waren hier“ ist ein Postpunk-trifft-Schmerz-Wunderwerk, das „die Risse dieser Welt“ (so die „Rolling Stone“-Review-Überschrift, eine Songzeile des monumental wütenden Titelstücks zitierend) grell und düster zugleich ausleuchtet wie kein anderes Album im deutschsprachigen Raum. Seit Ton Steine Scherben in den 60er/70ern und den Fehlfarben vor gut 40 Jahren hat es solche nihilistische wie aufrüttelnde Musik hierzulande nicht mehr gegeben.
„Nach uns kommt die Sintflut“
„Wir haben uns verewigt in den Rissen der Welt“, heißt es also in besagtem titelgebenden, Richtung Metal abbiegenden Dampfhammer-Song des Indie-Trios. „Wir waren hier/Wir waren hier/Keine Pflanze, kein Tier war so wertvoll wie wir/Nach uns kommt die Sintflut/Wir fressen vorher alles auf.“ Puh, gute Laune macht das nicht. Aber wie auch in Zeiten, die überlebenswichtige Themen wie Umweltzerstörung, ökologischer Fußabdruck des Menschen und Klimakatastrophe an den Rand gedrängt haben zugunsten von rechtspopulistischem Migranten-Bashing, irrsinnigen Schuldenbremsen und Putin-Arschkriecherei. Wie schon mit „Europa“, dem vom russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine aufgeladenen Schlüsselsong des vorherigen Albums, legt die in Berlin beziehungsweise Stuttgart lebende Band auf ihrem sechsten Album den Finger in die Wunden unserer tristen Gegenwart, ohne jemals in platten Agitprop-Punkrock abzurutschen.
Wenn die beiden Nerven-Sänger Max Rieger und Julian Knoth in Tracks wie „Bis ans Meer“ irgendwann nur noch brüllen („Irgendwo, zwischen jetzt und hier/bin ich ganz bei mir“, „Ich schrei lauter als die Wellen/ich schrei lauter als das Meer“), stellen sich unweigerlich die Nackenhaare aufrecht angesichts von so viel eindringlicher Verzweiflung. „Das Album sollte aus allen Nähten platzen, auch wenn es auf Zimmerlautstärke abgespielt wird“, sagte Rieger dem Schreiber dieser Review vor zwei Jahren zur damals sensationell einschlagenden Vorgängerplatte. Diese Devise galt auch für „Wir waren hier“. Der Sound ist erneut kathedralengroß, fast jedes Lied trumpft mit wuchtig hallenden Gitarrenriffs (Max Rieger), gefährlich knurrendem Bass (Julian Knoth) und vorwärts peitschenden Drums (Kevin Kuhn) auf, lediglich „Achtzehn“ und „Wie man es nennt“ in der Mitte des Albums gönnen dem Hörer Atempausen im Streicherballaden- oder Midtempo-Modus.
Trauer, Zorn – und sogar Glück
Die Label-PR hat für dieses so angenehm vertraute wie clever weiterentwickelte Songwriting- und Sound-Erlebnis ein schönes Bild gefunden: „In ihrer Musik fliegt man immer noch über Halden voll Schrott, über dürre Heiden, wüste Länder und öde Städte. Aber es schillern nun auch schöne Klangtupfer über der Szene wie von den letzten Sonnenstrahlen vor einer ewigen Nacht oder von einem bunt schillernden Ölfilm auf einer verdreckten See.“ Dass diese intensiven Lieder nicht nur Trauer und Zorn, sondern seltsamerweise auch Glück empfinden lassen, ist das große Kunststück der 2010 in Esslingen am Neckar gegründeten Nerven.
Die neuen Songs hat das Trio „in einer vierwöchigen Session in einem ehemaligen Sterne-Restaurant am Stuttgarter Schlossgarten mit Blick auf die Oper geschrieben“, heißt es. „Wir waren wieder alle gemeinsam in einem Raum, und plötzlich ging alles wieder wie von alleine. Es haben sich wie von selber Leitmotive gebildet, die alle Songs miteinander verbinden.“ Dass der zwischen derbem Krach und zarter Melodie pendelnde Live-Sound hier perfekt eingefangen wurde, macht die Sache noch besser.
Das dritte Nerven-Meisterwerk in Folge
„Es ist das erste Album, das wir machen, das sich nicht so anfühlt wie unser letztes Album“, teilt die Band mit. Gut so. „Wir waren hier“ ist ihr drittes Meisterwerk in Folge nach „Fake“ (2018) und „Die Nerven“ (2022) – das muss ihnen erstmal jemand nachmachen. Appell an die musikkaufenden Fans: Jetzt bitte, nach zwei soliden Top-20-Platzierungen, an die Spitze der deutschen Album-Charts damit!
Das Album „Wir waren hier“ von Die Nerven erscheint am 13.09.2024 bei Glitterhouse. (Beitragsbild von David Späth)