Von The Mystery Lights bis Neumatic Parlo: Sounds & Books-Mitarbeiter Ben Kaufmann stellt seine 25 Alben des Jahres vor
Große musikalische Erwartungen lagen dieses Jahr in der Luft. Lange von mir ersehnte Alben standen in den Startlöchern. Verschollen geglaubte Rückkehrer und vielversprechende Neuankömmlinge kündigten sich an. Ein Musiker hingegen entschied sich dafür sein neues Album zunächst klammheimlich mit in die Einkaufstüte seiner Kunden packen zu lassen – gratis, versteht sich. Leider stand auch eine persönliche Enttäuschung im Raum: bis auf den Track “Mother Nature“ konnte ich der neuen MGMT-Platte “Loss of Life“ nur wenig abgewinnen.
Unser Soul-Schwein Eddie kam auch 2024 klanglich wieder nur selten auf seine Kosten, aber sein Genre blitzte zumindest von Zeit zu Zeit hervor – vor allem dank dem Hause Daptone. Post-Punk-Klänge waren abermals zu vernehmen, wurden aber zusehends von 60’s Garage und Lo-Fi-Sounds verdrängt oder vermischten sich untereinander in einigen Fällen. Womöglich in Anlehnung an einen absurden bis ungewissen Zeitgeist war zudem – klanglich wie thematisch – eine starke Tendenz zum Mysteriösen zu spüren. Aber lest und hört selbst …
1. The Mystery Lights – Purgatory
Höchste Erwartungen, die zugleich unterwandert und übertroffen wurden. Die Lights kehren nach Jahren der Abkehr und Rückbesinnung mit einem eklektischen Stück Garage-Poesie zurück. Die Band hat ihre Songpalette von Album zu Album zunehmend experimenteller, vielschichtiger und diverser arrangiert. Sie folgen demnach keinesfalls mehr einem musikalischen Gesamtkonzept, vielmehr dem individuellen Drive eines jeden Songs. Auf dem aktuellen Album geht die Diversität gar so weit, dass man zwischendurch das Gefühl bekommen könnte, man höre einen ebenso handverlesenen Sampler wie jener, der sie einst beeinflusste: Lenny Kayes 60’s-Nuggets. Die Garage/Punk-Hybride “In The Streets“ und “Can’t Sleep Through The Silence“, die leuchtende Kinks-Hommage “Sorry I Forgot Your Name“, das freak-beatige “Don’t Want No Don’t Need No“ und die Synth-Ballade “Together Lost“ sind nur einige Beispiele dafür, wie meisterlich dieses musikalische Chamäleon bis in die Nuancen geformt wurde. (Beitragsbild: The Mystery Lights by Julia Khoroshilov)
Bereits bei den ersten sonnig-trunkenen Klängen dieses Debütalbums fühlt man sich an andere rezente Indie- und Neo-Psychedelia-Bands mit melancholisch angehauchten 80’s Vibes – wie MGMT, The Drums, Broncho, Tame Impala oder Phoenix – erinnert. Steigt man tiefer ein, lassen sich neben diesen Haltungen auch gewisse Details ausmachen, die ebenjenen Zeitgenossen größtenteils abgehen – womöglich herkunftsbedingt. Laid-back-Spielweisen, demo-affine Spontaneität und ein zwischen den Zeilen immer wieder aufkommender Easy Living-Mood scheinen zutiefst im heimischen Lifestyle des Duos verwurzelt zu sein: dem der australischen Ostküste. Vor allem die Indie-Punk-Pop-Hymne “Sonic Blue“, das energetisch preschende “Velvet“ und der sphärische Funk-Track “Sofa King“ liefen bei mir seit Veröffentlichung rauf und runter. Man kann nur hoffen, dass sich Royel Otis ihre Unbekümmertheit und ihr Gespür für das Ungeschliffene möglichst lange bewahren (können).
3. The Libertines – All Quiet on the Eastern Esplanade
The lads are back in town. Neun Jahre nach ihrem umstrittenen dritten Album und ganze 22 Jahre nach ihrem einflussreichen Debüt knüpfen Carl Barât und Pete Doherty nahtlos an ihr außergewöhnliches Gespür für Songwriting und -darbietung aus den Anfangstagen der Band an; als wäre nie etwas zerbrochen. “I Have A Friend“ und “Be Young“ zeigen ihre Ader für griffige, niemals banale Catcher; “Night Of The Hunter“ und das instrumentell an Tom Waits erinnernde “Baron’s Claw“ hingegen sind die poetischen Perlen eines Albums, das bei jedem weiteren Hören noch besser wird. Einzig der Gitarren-Sound dürfte gerne wieder etwas dreckiger sein.
Bereits die ersten Laute klingen wie in alten Tagen; Namen werden überflüssig. Würde der intuitive Drum-Stil von Meg White nicht fehlen, könnte “Old Scratch Blues“ glatt als verschollener Track der “Elephant“-Platte durchgehen. Doch nicht nur dieser Song der A-Seite erinnert an den einflussreichen Stil der White Stripes. Nach zwei Experimenten ganz unterschiedlicher Art ist Jack Whites sechstes Soloalbum eine knallige Rückbesinnung auf bluesigen Garage-Punk, ohne jedoch seine jüngsten Einflüsse (vor allem auf der B-Seite) gänzlich zu verleugnen. Wer als bekennende Rock-Aficionada bei der Songline „Just like Joshua and the fabled walls of Jericho, I’m here to tear down the institution!“ und dem anschließenden Power-Riff noch auf den Sitzen bleibt, der ist nicht zu helfen.
5. Dead Ghosts – Hippie Flippin
Kein Banddebüt, aber mein persönliches. Eine Stimme, die von Cole Alexander (Black Lips) oder Patton Magee (The Nude Party) stammen könnte; ein Klang, der an die Country-getränkten Lo-Fi-Tracks der Black Lips und den Outlaw-Soul der Night Beats erinnert. Als sei dieser Sound auf den ersten Alben nicht schon lässig genug gewesen, sind auf dem neuen Album Einschläge des 60’s und 70’s Funk, Bläsersektionen und ein Hauch von Americana zu vernehmen. Dies macht die Platte nicht nur abwechslungsreicher, es verleiht einigen Songs – allen voran “Satisfy My Mind“ und “Free & Easy“ – eine verstärkte textuelle Tiefe und klangliche Dichte. Das Album wurde bewusst unabhängig produziert und diese Kompromisslosigkeit hört man ihm an. Schade, dass ich nicht schon früher auf die Dead Ghosts gestoßen bin; aber in der Musik gibt es bekanntlich kein ‚zu spät‘.
6. Being Dead – EELS
Es gibt Alben, die mich unmittelbar beeindrucken, und solche, die mich zunächst irritieren oder gar ein wenig abstoßen und trotzdem nicht loslassen; bis sie mich nach und nach erobern, als verwandelten sie sich vor meinen Ohren, und ich mich anschließend frage, wie ich sie jemals anders hatte wahrnehmen können. Beim Zweitwerk der texanischen Querköpfe war/ist definitiv letzteres der Fall. Sie vereinen 60’s Psych und campy Surf Rock, Cowboy Kitsch und Egg Punk; verfallen jedoch trotz ihrer albernen Attitüde niemals in eine rein slapstickartige oder die eigene Musik nicht mehr ernstnehmende Performance. Vielmehr löst offenbar der Spaß an unkonventionellen Stimm- und Klangverzierungen kreative Energien, die derart frei fliegen dürfen, dass sie – ähnlich eines dadaistischen Kunstwerks – zu bunten, nicht immer greifbaren und zwangsläufig auch zu humoristischen Momenten führen.
Die Gründungsmitglieder Falcon Bitch und Shmoofy wechseln sich an Gitarre und Drums ab, stetig darauf bedacht ihre zweistimmigen Vocals als weiteres eigenständiges Lead-Instrument zu etablieren. Vor allem diese Vereinigung scheinbarer Widersprüche, von zwangloser Flexibilität und perfekter Verzahnung, von Absurdität und Ergriffenheit ist es, was den Sound von Being Dead so außergewöhnlich macht. Trotz oder gerade aufgrund der eigentümlichen Verinnerlichung von Sounds aus vergangenen Zeiten kommen mir beim Hören auch andere zeitgenössische Bands, wie The Babies und Beach Fossils, in den Sinn. “Godzilla Rises“, “Problems“, “Nightvision“ und “Big Bovine“ haben es mir aktuell besonders angetan. Danke Memo!
7. Goat – Goat
Kratzige und wellenförmige Geräusche. Reinigung, der Eintritt in eine andere Welt und ‚ein weiterer Tod‘. Goat-Alben fühlen sich meist wie schamanische Reisen an und starten auch entsprechend; so auch ihr mittlerweile sechstes Studioalbum. Das Sphärische und der Exzess widersprechen sich nicht. “All Is One“ heißt der instrumentale siebte Track – eine Hommage an den Zulu-Sangoma Credo Mutwa und eine meditative Allegorie auf die synkretistische Alleinheit. Entsprechend divers ist das stilistische Spektrum: Psychedelia, Progressive Rock, Funk, Afrobeat, Ethno, Ambient, Space Age, Free Jazz und Hip Hop vereinen sich unter der Wegweisung einer rituell anmutenden Punk-Amazonen-Stimme zu einem surrealen Klangraum. Dieser ist im Vergleich zu den vorangegangenen Alben in noch komplexer verwobene Texturen gebettet. Das Werk des maskierten siebenköpfigen Musikkollektivs aus Schweden – mit drei Kernmitgliedern, ansonsten wechselnder Besetzung, einzig Christian Johansson hat seinen Namen bislang offengelegt – bleibt somit in allen Belangen mysteriös wie musikalisch wertvoll.
Gerade weil die Truppe aus Bristol in ihrem musikalischen Ausdruck oft direkt, unbändig und energiegeladen ist, finde ich jene ihrer Songs, bei denen sie das Tempo rausnehmen und mit subtilen, stellenweise experimentellen Klangwelten arbeiten, umso eindrücklicher. “IDEA 01“ und “Monolith“ geben einen wunderbar poetischen Rahmen, der mittels tief verwobener Muster bei Kopfhörerrezeption zu Reisen ins Unterbewusstsein einlädt; während Tracks wie “Gift Horse“ und “Hall & Oates“ eher auf bewährte, aber niemals repetitive IDLES-Eruptionen setzen.
Dass sich diese niemals paradoxe Mischung auf dem neuen Album noch verstärkter Bahn bricht, könnte nicht zuletzt auf die Zusammenarbeit mit dem – für seinen weitreichenden Einfluss bekannten – Radiohead-Produzent Nigel Godrich zurückgehen. Jedenfalls befreit sich die Band hiermit endgültig aus der reinen Postpunk-Schublade, in die sie von vielen Fans und Kritikern immer noch gesteckt wird. Nur – bei aller Liebe zum LCD Soundsystem – den Song “Dancer“ hätte ich persönlich jetzt nicht gebraucht.
Überzeugte die erste Platte von Mela und Peppi noch durch ihre Impulsivität und Schnörkellosigkeit, so wirkt die zweite nun zwar durchdachter, aber nicht weniger emotional. Die leidenschaftliche Kampfansage “(Not) Nice“ markiert gleichermaßen einen musikalischen Höhepunkt: sie entwickelt durch eine unkonventionelle Art des Call and Response und durch dramaturgisch raffinierte Tempiwechsel die wohl mitreißendste Dynamik des Albums. Die unbändige Drastik des CAVA-Garage-Punks spiegelt sich auch in den intimen bis gesellschaftskritischen Texten wider. Peppi und Mela singen gegen patriarchale Macht und Kontrolle an und stellen klar: die Zeit des rein formellen Aufbegehrens ist vorbei. „Now we’re in control, we want the power. And when you talk, we just talk louder.”
10. Geese – Alive & in Person
Ja, eine Live-Platte, die ohne neuen Tracks daherkommt! Aufgrund der überschaubaren Lauflänge ist es zudem eher eine Live-EP als ein Album geworden. Ich musste die Platte trotzdem in die Liste mitaufnehmen, weil sie die Musik und den dahinterstehenden Spirit der Truppe aus Brooklyn auf kongeniale Weise offenlegt. Gleichzeitig gibt es frische Perspektiven auf die bereits letztes Jahr veröffentlichten Songs: das Sinn suchende “Domoto“ kommt jetzt als reines Piano-Stück daher und der sonst überaus druckvoll dargebotene Refrain von “I See Myself“ wird nun von der Band zum Sweet-Soul-Part erhoben. Es ist eine Live-Platte der anderen Art: kein Publikum, keine Showtime-Perfection. Atemgeräusche, Seufzer und lockerer Talk zwischen den Songs räumen dem Spontanen und Unvorhergesehenen Platz ein. Man erhält das Gefühl einer lockeren Jamsession beizuwohnen, aber vor Ort auf einem Sofa; das Bein wippt im Rhythmus mit.
11. The Hard Quartet – The Hard Quartet
Stephen Malkmus (Pavement), Matt Sweeney (Chavez), Emmett Kelly (Cairo Gang, Ty Segall) und Jim White (Dirty Three) konterkarieren die gängigen Supergroup-Klischees mit stellenweise dröhnendem Lo-Fi-Indie und – zwischen allen Beteiligten – wechselndem Songwriting/Lead Singing. Entsprechend vielseitig kommen die Songs daher: die Arhythmik von “Earth Hater“ lässt an die 90’s-Indie-Weggefährten von Sammy denken; “Rio’s Song“ mit Sweet Guitar und voller Stimme erinnert an eine bluesige 70er Ballade; bei “Renegade“ feiern die vier Weggefährten eine noisy Grunge-Party; das gefühlvoll vereinnahmende und zeitgleich vor Coolness strotzende “Six Deaf Rats“ setzt sich Lou Reeds Sonnenbrille auf.
12. Benny Trokan – Do You Still Think of Me
Man kannte den gebürtigen New Yorker vor allem als Bassisten der Bands Spoon, The Jay Vons oder Lee Fields & The Expressions. Doch vor Jahren entdeckte ich auf einem Sampler von Wick Records seine ersten Solo-Tracks “Turn Back You Fool“ und “Too Far Gone“, die mich im Anschluss nicht mehr losließen. Es folgten Singles zu dem an The Seeds erinnernden “Get It in the End“ und dem soul-getränkten “Walking Back“. Seitdem wartete ich gespannt auf ein erstes Solo-Album; and here it is.
Auch bei den neuen Songs bleibt er seinem Stil zwischen 60’s Garage, Low Rider Sound und einer sentimentalen ’50’s loss and heartache‘-Gesinnung treu. Unverkennbar bleibt seine bewusst live eingesungene Stimme, die mal rauchig, mal sweetsoul-verhaftet daherkommt. Wenngleich die übernommenen Singles aus den letzten Jahren im Vergleich eine eindringlichere Handschrift tragen als jene Tracks, die nun auf dem Album erstmalig erschienen sind und ich mit Bedauern feststellen musste, dass sein meines Erachtens stärkster Song “Too Far Gone“ nicht auf das Album gepackt wurde, ist die Platte ein weiteres Juwel aus der rückbesonnenen Daptone-Welt.
13. Manu Chao – Viva Tu
Auch der Punk-Troubadour, Weltenbummler und Protektor der Vergessenen ist zurück – hier sind sogar 17 Jahre seit seinem letzten Studioalbum vergangen. Sample-Einschübe und die nahtlose Songübergangsstruktur à la Radio Bemba (als sei die Geschichte der Menschheit eine brüchige, aber niemals endende Erzählung) erinnern an Chaos finale Platte mit Mano Negra und seine einflussreichen Anfangstage als Solokünstler; die meisten neuen Tracks kommen aber folkloristischer und etwas gemächlicher daher. Auch sein selbst betitelter Mestizo-Stil (eklektisches Klang- und Sprach-Potpourri aus karibischen, lateinamerikanischen und europäischen Einflüssen) kommt erneut zum Vorschein. “Tu Te Vas“ und das poetische “São Paulo Motoboy“ sind die Herzstücke dieses Albums.
Kritische Einwände er verpasse es dadurch jüngere Generationen zu erreichen, würde ich in Frage stellen: er kollaboriert auch mit aufstrebenden Artists, wie der französischen R&B-Sängerin Laeti, gibt dadurch wie gewohnt auch modernen Klangsprachen Raum und stellt sich erneut gegenwärtigen sozialen und politischen Themen (Flüchtlingsrouten, Klimawandel, soziale Ungleichheit). „This is not success. This is not progress. This is just a collective suicide.“ Auch der angeblichen Verharmlosung der Themen durch seine exotischen Rhythmen muss ich widersprechen: Worte sprechen für sich und was wäre Manu Chaos Musik ohne ein Hauch von Hoffnung.
14. Ty Segall – Three Bells
Ein verschwommenes Portrait; wie durch eine verschmutzte oder von Regentropfen bedeckte Fensterscheibe aufgenommen. Zottelige Haare bedecken das ohnehin schon unkenntliche Gesicht. Im Hintergrund laufen schlierige Blau- und Grüntöne ineinander; eine mäandernde Flusslandschaft evozierend. So unberechenbar wie das Cover des neuen Albums gebärdet sich abermals Segalls Klangpalette. Nach der Synthie-Space-Platte “Harmonizer“ (2021) und der folklastigen “Hello, Hi“ (2022) überrascht er nun mit einer Mischung aus Psych-, Glam-Rock, New Wave und Indie Folk – und erneut klingt es in vielen Facetten so überzeugend, als sei er nie anders unterwegs gewesen.
“I Hear“ ruft einen “Fashion“-Bowie und die “Fear of Music“-Platte der Talking Heads wach; trotzdem schafft es der unersättliche Kalifornier den Song in seine eigene Klangwelt voller Fuzz und unkonventioneller Drum-Rhythmen einzubetten. Ähnliches gilt für den an die Lennons (sowohl John, als auch Sean) erinnernden “Watcher“. Segalls Frau Denée zeichnet nicht nur wie gewohnt verantwortlich für das Album-Layout und jenes signifikante Coverportrait, sondern wird zusehends auch feste kreative Kraft bezüglich Lyrics und Vocals. Hatte sie beim vorletzten Album gerade einmal eine Songbeteiligung (Lead Vocals für “Feel Good“), sind es auf “Three Bells“ fünf Songtexte, die sie mitgeschrieben hat, und zwei Gesangsparts (Lead Vocals für “Move“ und Vocals für “What Can We Do“). Ty Segall dankt es ihr auf seine Weise mit dem Jazz-Feuerwerk “Denée“.
15. Jessica Pratt – Here in the Pitch
Wie aus einem zeitlosen Raum. Als sei die tragisch verstorbene Julee Cruise zurückgekehrt, um ein letztes Album mit David Lynch aufzunehmen. In wärmeren Momenten scheinen sich Bebel Gilberto und der Bossa Nova hinzuzugesellen. Strophen erheben sich gegen den Refrain. Gefühlte Distanzunterschiede zwischen Stimme und Instrumenten, die individuelle Intonation einer jeden Silbe und gezielt eingesetzte Effektmaskierungen verleihen Pratts viertem Album einen traumartigen Charakter. Ganz diesem Duktus folgend wirkt das Instrumentalstück “Glances“ wie ein Nachspiel zu Michael Brooks unwirklichem Opening Score aus Paul Schraders “Affliction“. „And the storyline goes forever, […] I’m gone with all the changes in my mind.“ Mit diesen Zeilen evoziert der Closing Track “The Last Year“ ein Bild in mir: eine nach der Apokalypse geborene Einzelgängerin findet in den staubigen Trümmern einer ehemaligen Bar diese laufende Platte – ohne zu verstehen, was Musik ist und aus welcher Zeit die Stimme zu ihr spricht.
16. Caleb Landry Jones – Hey Gary, Hey Dawn
Der extravagante Schauspieler und Musiker wirft auch auf seinem vierten Studioalbum dem Wahnsinn dieser Welt sein kaleidoskopartiges musikalisches Spiegelbild zurück – jetzt mehr denn je. Surreal angelegte Songstrukturen, hexenhafte Stimmlagen, Grunge-Riffs, an Tom Waits erinnernde Zirkuswelten, frühe Roxy Music Vibes. Jones ist für mich dann am Stärksten, wenn er sich dem Höreindruck nach möglichst frei von Struktur- und Genrekonventionen macht; wenn die Songs sich als Einzelwerk nicht mehr wichtig nehmen, sondern gebündelt zu einer großen Punk-Oper gedeihen dürfen. Denn gerade in diesem Fahrwasser stechen auch Albumsonderlinge – wie der an “Sweet Virginia“ erinnernde Track “He Sued His Wife“ oder die punky-bluesige VU-Hommage “Pageant Thieves“ – erst scheinend empor.
17. The Cure – Songs of a Lost World
Eine Stimme, die man niemals vergisst. Die Band um Robert Smith – eine Legende der Gothic- und Dark Wave-Szene – legt ihre erste Platte seit 16 Jahren vor; entsprechend hoch waren die Erwartungen. Kam das Vorgängeralbum noch etwas orientierungslos daher, so knüpft die neue Scheibe an den unvergesslichen Sound von “Disintegration“ (1989) an. In gewohnt schwermütiger Manier rahmen die Endzeitepen “Alone“ und “Endsong“ dieses düster-schöne Werk; die Single “A Fragile Thing“ sticht mit opportunem Ohrwurmcharakter hervor. Obgleich der Sound im zweiten Drittel etwas aus der Spur gerät, finden The Cure auf diesem Album in vielen Belangen zu ihrer alten Stärke zurück; ohne sich dabei zu wiederholen.
18. Thee Sacred Souls – Got a Story to Tell
Nach ihrem grandiosen Debütalbum (2022) und einer ebenso starken Europatour meldet sich die Truppe aus San Diego mit einer weiteren Platte voller Sweet Southern California Soul zurück. Aufgrund der bereits gesammelten Studio- und Live-Erfahrung kommt ihre Spielweise zwar tighter daher, doch einige der neuen Tracks sind hinsichtlich ihrer Melodien nicht ganz so griffig und individuell ausgefeilt wie noch jene auf dem ersten Album. Der Chicano-Soul-Track “Price I’ll Pay“, die Rare-Soul-Hommage “Losing Side of Love“, die Rocksteady-Nummer “My Heart is Drowning“ und das sich smooth gebärdende “In the Mirror“ sind hingegen die Perlen der neuen Platte und zeigen, dass Thee Sacred Souls in entsprechenden Momenten auch weiterhin durch ein feines Gespür und eine Liebe für das Genre seitens aller Bandmitglieder zu überzeugen wissen.
19. Cameron Winter – Heavy Metal
Von Winter für den Winter. Der Geese-Sänger legt ein nachdenkliches bis schwermütiges Solodebüt vor, das nicht nur wie gewohnt an die Stimme von Zach Condon denken lässt, sondern nun auch stellenweise an dessen Sound. Einigen Kritikern zu jämmerlich, hat mich das Album im Zuge meiner jüngst wiedererwachten Tom Waits-Phase atmosphärisch definitiv erreicht. Auch die angeprangerten Klischees konnte ich nicht wirklich entdecken; vielmehr ganz eigene Klangtexturen und experimentell angelegte Background-Stimmen. Der soulige Call and Response-Track “Nausicaä (Love Will Be Revealed)“, das an Tim Hardins Debüt erinnernde “Love Takes Miles“ und das somnambule “Drinking Age“ sind meine bisherigen Favoriten. Einzig ein wenig mehr melodische Abwechslung auf der B-Seite hätte ich mir gewünscht.
20. Malice K – AVANTI
Nicht nur die Stimmlagen machen es deutlich: der Zuhörer hat es mit einem Menschen zu tun, der sich ungern in Schubladen stecken lässt und dies auch auf mal provokante, mal distanzierte Weise in seinen musikalischen wie menschlichen Ausdruck steckt. Dem Aussehen nach ein verkaterter Ziggy Stardust erinnern seine Vocals mal an die neblige Stimme von Elliott Smith, mal an diverse Grunge-Koryphäen. Wenn sie und/oder der Gitarrensound brüchig werden (“Halloween“, “You‘re My Girl“), offenbart sich die Herkunft aus der Underground-Punk-Szene von Olympia (Washington). Ansonsten lassen sich erstaunlich viele Balladen und Pop-Elemente finden, als wolle er den voreingenommenen Zuhörern den Spiegel bewusst vorhalten.
Weitere nennenswerte Alben:
21. The Lovely Eggs – Eggsistentialism
22. Whispering Sons – The Great Calm
23. Meatbodies – Flora Ocean Tiger Bloom
24. Kim Gordon – The Collective
25. Neumatic Parlo – play it as it lays