Die Alben des Jahres 2022 von Ben Kaufmann

Sounds & Books-Mitarbeiter Ben Kaufmann stellt seine Alben des Jahres 2022 vor

Als ich meine Liste betrachtete, fiel mir auf, dass der Soul verhältnismäßig stark vertreten ist. Warum eigentlich? Eine Vermutung: Sobald ich daheim eine Soul-Platte auflege, höre ich neben mir einige tippelnde Schritte und ein Grunzen, danach vorerst nichts mehr. Richte ich meine Augen nun gen Boden, erblicke ich Eddie, unser Minischwein, der aufmerksam horchend mitten im Raum steht und genüsslich mit dem Schwanz wedelt; er ist nämlich eingefleischter Soul-Liebhaber. Hätte ich hingegen die Frechheit besessen eine Punk-Scheibe zu spielen, wäre er entrüstet quiekend in den nächsten Raum geflüchtet. Da Eddie – übrigens nach Mr. Vedder benannt – nun erst seit Anfang des Jahres bei uns ist, steht zwar nicht zur Debatte, ob er mich zum Soul geführt haben könnte; womöglich hat er jedoch mein diesbezügliches Gehör weiter geschärft. Ich werde dem im Laufe des nächsten Jahres weiter auf den Grund gehen. Hier sind jedenfalls im Namen des Soul-Schweins Eddie meine

Alben des Jahres 2022

1. Ruby Goon – Brand New Power

Dieses Album war vom ersten Moment an eine Offenbarung für mich und hat bislang nichts von dieser Wirkung eingebüßt. Ein freigeistiges Genre-Gewitter aus den vielfältigen Tiefen des Moskauer Underground: Leznhevs soul-getränkte Stimme trifft auf Versatzstücke aus Alt-Pop, Psychedelic Funk und Punk, garniert mit subtilen Electronica-Gravuren der britischen DJ-Ikone Erol Alkan. Von dieser Platte hätte ich ohne Sounds & Books wohl vorerst nichts erfahren: so schließt sich ein wunderbarer Kreis.

2. Black Lips – Apocalypse Love

Auf traumwandlerischen Pfaden führen uns Atlantas Enfants terribles tief in musikalische Welten, die – wie schon bei ihren beiden Albumvorgängern – nur so vor kreativer Kraft und beißender Alltagspoesie à la Bukowski strotzen.

3. Michael Rault – Michael Rault

Auf dem neuen Album des kanadischen Singer-Songwriters ist das Kalifornien der 70er Jahre förmlich zu riechen. Sonnengetränkter West Coast Sound lässt uns von einem feuerroten Dodge Challenger, dem Highway 101 und Supertramps ‚Breakfast in America‘ träumen.

4. Red Hot Chili Peppers – Unlimited Love

Mit dem Band-Comeback von John Frusciante kehren auch die Peppers wieder zu ihrem Spirit der 90er Jahre zurück; ohne sich jedoch dabei nur selbst zu zitieren. Gewohnte Funkeinlagen und Kiedis‘ nach wie vor unverkennbare Stimmfarbe treffen hier auf Jazz-Einflüsse und leichtlebigen West Coast Sound. Die Platte lief bei mir über den Sommer rauf und runter.

5. The Frightnrs – Always

Das erste Album nach dem Tod ihres Sängers Dan Klein ließ verständlicherweise etwas auf sich warten; doch die Band hatte es ihm versprochen. Durch Gesangsaufnahmen aus der Session des sensationellen ersten Albums und ihrem Rocksteady-Sound im Stile von Alton Ellis kehren sie zu jener unvergleichlichen Magie zurück; mit einem lachenden und einem weinenden Auge.

6. Abraxas – Monte Carlo

Night Beats-Begründer Danny Lee Blackwell und Carolina Faruolo vollführen auf ihrem gemeinsamen Debütalbum einen psychedelischen Tanz durch multikulturelle Landschaften. Von Cumbia und Tropicalismo à la Os Mutantes über arabische und anatolische Rhythmen bis hin zu R&B und Outlaw-Soul lassen sich allerlei Einflüsse auffinden – eine mythisch aufgeladene musikalische Reise.

7. Thee Sacred Souls – Thee Sacred Souls

Mit dem Debüt des südkalifornischen Trios erschien wieder einmal eine Perle des 60er-Jahre-Soul aus dem Hause Daptone. Der Track “Easier Said Than Done“ hat mich von der ersten Sekunde an fasziniert und ist seitdem von meiner Playlist nicht mehr wegzudenken.

8. Jack White – Entering Heaven Alive

Neben dem mutigen, aber meines Erachtens stellenweise zu exaltierten Feuerwerk “Fear Of The Dawn“ ist dies nicht nur das zweite Album von Jack White für dieses Jahr, sondern auch ein wunderbar unaufgeregtes und gleichzeitig von genreübergreifenden Songideen nur so sprühendes Gegenstück. Könnte “All Along The Way“ noch eine Ballade von Metallica sein, nimmt der bluesige Funk von “I’ve Got You Surrounded (With My Love)“ mit auf einen mentalen Freiflug über eine evozierte nächtliche Großstadt. Wenn am Ende der Track “Taking Me Back (Gently)“ – der einem auf “Fear Of The Dawn“ noch als verzerrter Rock-Opener entgegenschoss – nun plötzlich als 40er-Jahre-Jazznummer daherkommt, überträgt sich Jack Whites spitzbübisches Grinsen schlagartig auf die eigenen Lippen. Das elektronische Outro war zudem bereits als Intro des ersteren zu vernehmen, womit uns Jack White nochmals eindrücklich klarmacht: ‚Diese beiden Alben, so unterschiedlich sie auch sein mögen, das alles bin ICH.‘

9. Yard Act – The Overload

Das Debütalbum der vier Herren aus Leeds kommt mit – in diesen Zeiten – frisch wirkenden Post-Punk-Attitüden und zutiefst britisch-zynischem Sprechgesang daher. The Streets und die ersten Platten von The Fall kommen einem in den Sinn.

10. Kevin Morby – This Is A Photograph

Nach einem meines Erachtens eher schwachen Albumvorgänger kehrt Morby hier zu alten Stärken aus der Phase von “City Music“ und “Oh My God“ zurück; hinzukommt ein bestechender Nashville-Vibe. Der titelgebende Track beginnt als beschwingender Folksong und mündet schließlich in einem beeindruckenden Finale, das hinsichtlich seiner Ausschweifung an eine Free Jazz-Session erinnert.

11. Red Hot Chili Peppers – Return Of The Dream Canteen

Man hört, dass einige Songs auf diesem Album aus den “Unlimited Love“-Sessions stammen. Trotzdem oder gerade deswegen ist es erstaunlich, dass die beiden Platten im Abstand von nur wenigen Monaten erschienen sind. Dieser immense und facettenreiche kreative Output ist nur zu bewundern. Ich kann nach meinem Empfinden zwar nicht bestätigen, dass dieses Album – wie man oft vernahm – das bessere der beiden ist. Jedoch finden sich auch hier unzählige nachhallende Songideen.

12. Júníus Meyvant – Guru

Auf Júníus Meyvant ist Verlass und er ließ sich Zeit. Drei Jahre nach “Across The Borders“ veröffentlicht der Isländer mit der erdigen Stimme erneut eine beeindruckende Platte voller Soul gespickt mit Country-Vibes und nordisch-spirituellen Klangmustern.

13. Lady Wray – Piece Of Me

Die Karriere von Nicole Wray war von Anfang an steinig. Nach ihrem Debüt musste sie 18 Jahre lang auf ihre nächste Soloplatte hinarbeiten. Das zwischenzeitliche Duo namens Lady mit Terri Walker wies ihr den Weg zum Soul der 60er und 70er Jahre, welchem sie auf ihrem anschließenden zweiten Soloalbum treu geblieben ist. Weitere sechs Jahre später kam nun “Piece Of Me“, auf dem sie ihre R&B-Anfänge wieder aufgreift und sie mit jenen Retro-Soul-Elementen verknüpft. Bemerkenswert gut funktioniert dies unter anderem bei “Through It All“, dem titelgebenden Track und dem Radiohit “Under The Sun“.

14. The Smile – A Light For Attracting Attention

Thom Yorke und Jonny Greenwood haben zusammen mit dem Drummer Tom Skinner ein besonderes, wenn auch nicht bis zum letzten Song überzeugendes Album aufgenommen. Hat der kraftvoll-punkige Track “You Will Never Work In Television Again“ erst einmal für die nötige Wachheit gesorgt, bilden die übrigen, eher sphärischen Tracks einen passenden Soundtrack für die Fahrt in eine herbstliche Morgendämmerung.

15. Immanuel Wilkins – The 7th Hand

Der erst 24-jährige Altsaxophonist aus Philadelphia legt eine erstaunlich reife Jazzplatte vor, die sich hauptsächlich zwischen Bebop und Ambient Jazz einreiht. Man möchte fast sagen leider – erst beim letzten Track “Lift“ lässt er seinen Free Jazz-Neigungen freien Lauf.

16. Mamas Gun – Cure The Jones

Erneute Soul-Pop-Explosion der Briten. Der Sound gefällt wie immer mit einer eindrucksvollen Mixtur aus verwurzelten Soul-Elementen, griffiger Pop-Klaviatur und progressiven Inserts. Perfekt für einen entspannten Sommernachmittag, an dem die Musik bei offener Terrassentür befreit nach draußen fliegen darf!

17. Jackstrap – I Love You Jennifer B

Ein Album wie ein Labyrinth. Das Londoner Duo erschafft auf seinem Debütalbum obskure Klangwelten, in denen man nie ganz weiß, was einen nach dem nächsten Takt erwartet. Mal ist es eine elektronische Verformung, mal Georgia Ellerys sanfte Stimme in all ihrer Klarheit – futuristisch und innovativ.

18. Dry Cleaning – Stumpwork

Das surreal anmutende zweite Album der Briten serviert erneut feinsten Post-Punk. Florence Cleopatra Shaws hypnotische Spoken-Word-Passagen rufen einem Le Tigre und frühe Tracks von Sonic Youth in den Sinn.

19. Warhaus – Ha Ha Heartbreak

Der Belgier Maarten Devoldere, dessen tiefe Stimme oft mit Leonard Cohen verglichen wird, meldet sich mit einem neuen Album zurück. Ein wohlig-warmer Grundton zwischen Soul und leichten Funk-Anleihen trifft auf eine subtile Instrumentierung und ein zutiefst sensibles Songwriting.

20. Trampled By Turtles – Alpenglow

Der vor allem akustische, sich zwischen Folk, Country und Bluegrass einreihende Sound der Truppe aus Minnesota ist eine erfrischende Abwechslung in diesen vermehrt elektronisch geprägten Zeiten. “It’s So Hard To Hold On“, “Central Hillside Blues“ und “On The Highway“ gehen direkt ins Ohr.

Weitere bemerkenswerte Alben:

21. Wet Leg – Wet Leg

22. Kurt Vile – (Watch My Moves)

23. Donna Blue – Dark Roses

24. Gilla Band – Most Normal

25. Ben (L’Oncle Soul) – Red Mango

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