Ein Album für die Jahresbestenlisten (hoffentlich hören es genügend Leute, die solche Listen schreiben): „Leave No Shadow“ von Emily Scott alias Chrysanths ist ein perfektes Artpop-Meisterstück.
von Werner Herpell
Wer sich mit seiner/ihrer Musik gleichermaßen auf Kate Bush, Nick Drake, Scott Walker und Claude Debussy berufen kann, darf sich der offenen Ohren und grundsätzlichen Sympathien dieses Reviewers schon mal sicher sein. Denn nur wenige Stimmen faszinieren so sehr wie die von Bush, nur wenige Folk-Songs sind so unfassbar schön wie die von Drake, nur wenige Arrangements haben eine solche Grandezza wie die vom jungen Walker der späten 60er-Jahre, und nur wenige klassische Klavier-Kompositionen sind so berührend romantisch wie etwa Debussys „Clair de lune“.
Ein 35-minütiges Gesamtkunstwerk
Wie die Schottin Emily Scott mit ihrem neuen Projekt Chrysanths nun all diese (mutmaßlichen) Einflüsse zu einem perfekten, vom ätherischen Songwriter-Brit-Folk ausgehenden Artpop-Album verwebt, ist – erst recht angesichts der großen Fallhöhe einer so ambitionierten Unternehmung – bewundernswert. „Leave No Shadow“ besteht aus neun Stücken, die ebenso sehr mit ihrer Raffinesse beeindrucken wie auch mit ihrer melancholischen Anmut bezaubern. Abschalten, das edle Cover-Artwork betrachten und die unweigerlich aufploppenden Landschaftsbilder im Kopf zulassen, das sollte die Devise beim Genuss dieses 35-minütigen Gesamtkunstwerks sein.
Wer sich ein bisschen mit herausragender Musik aus Schottland befasst hat, sollte irgendwann auch auf Emily Scott gestoßen sein. Als Sängerin, Bassistin und Multiinstrumentalistin ist sie im Bandprojekt Modern Studies aktiv, das seit 2015 Chamber-Pop, Indie-Folk und dezente Elektronik zu traumhaften Platten zusammenfügt. Unter dem einigermaßen düsteren Moniker Chrysanths (Chrysanthemen gelten als Blumen des Todes und der Trauer) und mit dem tollen Glasgower Label Chemikal Underground im Rücken kann Scott ihre musikalischen Vorlieben nun noch konsequenter umsetzen.
Kein Album für den Häppchen-Konsum
Es bringt eigentlich wenig, einzelne Songs von „Leave No Shadow“ als Highlights hervorzuheben – denn dieses Album ist eine Suite mit sanft ineinander fließenden, durchgehend hochwertigen Stücken, die deshalb auch nicht häppchenweise mittels Playlist goutiert werden sollten. Im Mittelpunkt stehen das zwischen Jazz und spätromantischem Impressionismus (Debussy!) flanierende Klavierspiel von Emily Scott, ihre fabelhafte, oft schwermütige Folk-Stimme (so dürfte Kate Bush jetzt mit reifen Mitte Sechzig klingen, wenn sie noch neue Musik veröffentlichen würde) sowie Streicher-Arrangements von erlesener Qualität (daher die Nick-Drake- und Scott-Walker-Assoziationen).
Epigonal ist gleichwohl nichts an dieser Platte – Scott verfolgt eine ganz eigene Vision. Dies sei „der Klang einer einzigartigen Künstlerin, die ihre Stimme findet“, heißt es in der Label-PR. Die wunderbar entspannte Bass-Arbeit von Susan Bear und das fragile Schlagzeug von Owen Curtis Williams ergänzen superb das luxuriöse Kopfkino-Klangbild von „Leave No Shadow“. Der Name des Bandprojekts ist übrigens mit einem weiteren Klassik-Einfluss von Emily Scott verbunden: Giacomo Puccinis Streicher-Elegie „Crisantemi“ von 1890.
Chrysanths zwischen Opulenz und Intimität
So klingt dieses Album mal opulent und dramatisch, dann wieder zurückgenommen und intim, mal tieftraurig dunkel, dann wieder nach erlösendem Sonnenaufgang. Ein so kompaktes wie episches Artpop-Folk-Meisterstück, keine Frage – und daher eine dringende Reinhör- beziehungsweise Kaufempfehlung.
Das Album „Leave No Shadow“ von Chrysanths ist am 13.09.2024 bei Chemikal Underground/Broken Silence erschienen und auch auf Bandcamp erhältlich.