Staunenswerte und fesselnde „Unheimliche Geschichten“ von Christiane Neudecker
von Gérard Otremba
Ewig keine unheimlichen Geschichten mehr gelesen. Da kam das neue Buch von Christiane Neudecker als willkommene Abwechslung gerade recht. In „Die Welt wartet“ hat die in Nürnberg aufgewachsene und in Berlin lebende Schriftstellerin und Regisseurin, deren vor sechs Jahren erschienener Roman „Der Gott der Stadt“ nachhaltigen Eindruck hinterließ, sieben solcher Schauergeschichten veröffentlicht. Christiane Neudecker erzählt von veränderten Wirklichkeiten der Protagonisten, greift dabei auf Motive der Literaturgeschichte zurück und überträgt sie kongenial in das Hier und Jetzt. In eine von Social Media und Künstliche Intelligenz dominierte Gegenwart, die alle vor neue Herausforderungen stellt.
Christiane Neudecker und Oscar Wilde
Wie tricky die 1974 geborene Autorin dabei vorgeht, beweist schon das Cover, auf dem Vögel über einem See fliegen. Vermeintlich. Denn dreht man das Cover um, stellen sich die Vögel als auf einem See schwimmende Enten und der ursprüngliche See als Himmel heraus. Passt haargenau auf den Inhalt der Stories, stehen die darin geschilderten Hauptfiguren stets vor den Schwierigkeiten einer neuen, meist sehr verwirrenden und unklaren Realität. Und was sind das für großartige Geschichten. In „Für immer und nie“ überführt Christiane Neudecker Oscar Wildes „Dorian Gray“-Thematik in die Gegenwart. Ein alternder Schauspieler wacht nach einer Begegnung mit einem geheimnisvollen Mann mit einem wesentlich jünger wirkenden Gesicht auf, aber die scheinbar positive Veränderung wirkt sich schon bald verheerend negativ auf sein Leben aus. Ein Lehrstück für die moderne Instagram-(Schein)Welt. Wie weit Influencer bereit sein könnten zu gehen, um sogar im Anblick des Todes nach Aufmerksamkeit und Reichweite zu buhlen, zeigt Neudecker nicht minder eindrucksvoll in diesem auch durch die Corona-Pandemie inspirierten Geschichten-Band.
Am Puls der Zeit
Die Erzählung „La Vuelta“ sticht dabei durch eine humorige Note hervor. Ein in einem Berliner „Kabuff“ vor sich hinhängendes, aus Pappe erstelltes Bild sieht sich total fehl am Platz und sehnt sich nach La Gomera und seinem Schöpfer und Meister zurück. Und versucht mittels suggestiver Beeinflussung, die neue Besitzerin zu einer Rücksendung zu bewegen. Eine sehr witzige und sehr charmante Kurzgeschichte. In „Wem du traust“ hingegen traut ein berühmter Dirigent seinen Ohren nicht. „Sie . Ist. Gefahr“ meint er bei der Probe einer Schubert-Symphonie statt der Pauke zu hören. Die Warnungen wiederholen sich während des Konzerts und der Maeastro findet sich als Bote einer Katastrophe wieder. Christiane Neudecker changiert mit ihren Geschichten in „Die Welt wartet“ geschickt zwischen Franz Kafka und E.T.A. Hoffmann, bleibt dabei aber immer originell und am Puls der Zeit. Es sprudelt nur so vor guten und unkonventionellen Ideen in diesem Buch, die Christiane Neudecker in staunenswerte, fesselnde und eloquente Geschichten überführt. Aber staunen Sie selbst und lesen Sie dieses Buch.
Christiane Neudecker: „Die Welt wartet“, Luchterhand, Hardcover, 256 Seiten, 978-3-630-87758-7, 22 Euro. (Beitragsbild von Peter von Felbert)