Ein mitreißender literarischer Pageturner von Christiane Neudecker
Im neuvereinten Berlin des Jahres 1995 beginnen fünf Menschen ihr Studium der Theaterregie an der berühmt-berüchtigten Hochschule für Schauspielkunst Erwin Piscator. Zu ihrem Mentor erhebt sich der Starregisseur Korbinian Brandner, der in der DDR zu großem Ruhm aufstieg, aber unter einigen besonderen Vorkommnissen in seiner ostdeutschen Vergangenheit leidet. Eine der Studenten heißt die später ebenfalls in ihrem Beruf erfolgreiche Katharina Nachtraub, aus deren erinnernden Perspektive Christiane Neudecker die Story ihres neuen Romans, „Der Gott der Stadt“, weitestgehend erzählt.
Das „Faust-Fragment“ von Georg Heym
Damals, Mitte der 90er-Jahre, kommt sie aus Nürnberg in die neue bundesrepublikanische Hauptstadt und muss sich dort genauso zurechtfinden wie ihre nahezu gleichaltrigen Kommilitonen. Während Tadeusz überraschenderweise ihren Götter-Dozenten Brandner aus für alle unerfindlichen Gründen duzt, es dem Franzosen François an Selbstbewusstsein fehlt und Schwarz eigentlich B-Movie-Horror-Filmregisseur werden möchte, besitzt Nele als alleinstehende Mutter von fast 30 Jahren mit Schauspielvergangenheit im Vergleich zu den anderen eine abweichende Sozialisationsstufe. Alle fünf erhalten von Brandner zur Inszenierung jeweils einen kleinen Teil aus dem „Faust-Fragment“ des 1912 aufgrund eines Unfalls jung verstorbenen, expressionistischen Dichters Georg Heym. Im Banne des mysteriösen Heym-Textes gehen die Studenten bis an ihre schöpferischen und geistig-körperlichen Grenzen.
Christiane Neudecker auf den Spuren von Donna Tartt
Christiane Neudeckers neuer Roman ist ein 670-seitiger, mitreißender literarischer Pageturner, der die Poesie des Films „Der Club der toten Dichter“ mit der trickreichen Spannung von Donna Tartts Erfolgsbuch „Die geheime Geschichte“ verknüpft, einen imposanten Blick auf das Berlin der 90er-Jahre wirft, der den Rhythmus und den Puls einer zusammenwachsenden Stadt einfängt, und in die dunklen Kapitel der DDR-Geschichte eintaucht. Die 1974 geborene Schriftstellerin und studierte Theaterregisseurin erzeugt eine teilweise schauerartige Atmosphäre, ihre Protagonisten stattet sie mit dunklen Geheimnissen und Begierden aus. Christiane Neudecker benutzt dabei eine präzise Prosa, um Stärken und Schwächen der Romancharaktere detailliert und punktgenau auszuloten. Faszinierende, dramaturgisch interessante und packende Literatur.
Christiane Neudecker: „Der Gott der Stadt“, Luchterhand, Hardcover, 672 Seiten, 978-3-630-87566-8, 24 Euro (Beitragsbild von Maurizio Gambarini).